© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/01 07. September 2001

 
Das Ende des Sozialen
Die Sicherungssysteme in Deutschland werden gegen die Wand gefahren
Jens Jessen

Die Hiobsbotschaften häufen sich. Die Pflegeversicherung und die Gesetzliche Krankenversicherung kommen mit ihren Beitragsmitteln nicht mehr aus. Die Rentenversicherung hält bis 2020 nicht das, was Riester versprochen hat. Und die Arbeitslosenversicherung, die bei einer Senkung der Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen die Beitragszahler entlastet hätte, wächst sich nach den neuesten Zahlen bis zum Jahresende auf über vier Millionen aus. Gesundheitsministerin Schmidt konnte zu der Entwicklung für ihren Bereich nur einen kurzen Kommentar beisteuern: „Mit hektischem, kurzfristig orientiertem Lavieren werde ich dieser Situation nicht begegnen.“ Damit meinte sie die im ersten Halbjahr fehlenden fünf Milliarden Mark in den Kassen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Wenn die Arbeitslosigkeit weiter zunimmt, wird der von ihr erwartete Weihnachtsgeldeffekt nicht ausreichen, die verringerten Beitragszahlungen der neuen Arbeitslosen aufzufangen. Deshalb wird mit einer Zunahme des Defizits gerechnet. Eine Beitragserhöhung um ein halbes Prozent wird immer wahrscheinlicher.

Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland werden erbarmungslos gegen die Wand gefahren. Der Eindruck verstärkt sich, daß das kein Zufall ist. Der Widerstand der damaligen Opposition vor der letzten Bundestagswahl, der Rentenmisere zusammen mit der Regierung zu begegnen, erscheint in einem ganz anderen Licht: 1998 sollte die solidarische Rentenversicherung grundsätzlich unangetastet bleiben. Durch den Einbau des demographischen Faktors wäre der Generationenvertrag gerettet worden. Das Gesundheitswesen wurde unter Seehofer stabilisiert durch erhöhte Zuzahlungen bei Arzneimitteln, Heil- und Hilfsmitteln und das Krankenhausopfer. Die soziale Krankenversicherung blieb jedoch erhalten. Nach der Wahl ruderte die neue Regierung zurück und hat es geschafft, die Kassen handlungsunfähig und die Rentenversicherung von der zeitlich begrenzten Ökosteuer abhängig zu machen. Der Abbau der Arbeitslosigkeit wird durch starre Tarifverträge, die den Gegebenheiten vor Ort nicht entsprechen, verhindert. Die soziale Rolle der Gewerkschaften verkommt zum Duckmäusertum der Betriebsräte vor dem praktizierten „demokratischen“ Zentralismus der Gewerkschaftsbosse.

Allen Beteiligten ist wohl das gemeinsame „Grundsatzpapier zur Erneuerung der europäischen Sozialdemokratie“ von Blair und Schröder aus dem Gesichtsfeld geraten. Dieses Papier ist das Schnittmuster, nach dem unser Sozialsystem in der Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung umgebaut werden soll. Gebastelt wurde es von Bodo Hombach und dem ehemaligen britischen Industrieminister Mendelsohn. Die soziale Landschaft in Deutschland soll so aussehen wie die in Großbritannien. Dort gibt es keine Mindesturlaubstage. Zeitverträge sind nicht begrenzt. Die Probezeit für Arbeitnehmer beläuft sich auf 24 Monate. Zwei Drittel der britischen Arbeitnehmer sind Gelegenheitsarbeiter. Kurzfristige Entlassungen sind die Regel. Die Fälschung der Arbeitslosenstatistik in Großbritannien führt dazu, daß ein neuer Arbeitsplatz schon dann geschaffen ist, wenn ein Lohnabhängiger eine Stunde pro Woche beschäftigt wird. Arbeitslos ist nur, wer Arbeitslosenhilfe erhält. Die Arbeitslosenhilfe aber endet bei Verlust des Arbeitsplatzes nach einem halben Jahr. Das Ergebnis dieser Politik: Die überwiegende Zahl der Arbeiter erhalten umgerechnet nur wenig mehr als fünf Mark in der Stunde bei höheren Lebenshaltungskosten in Großbritannien. Die ärmsten zehn Prozent der britischen Bevölkerung mußten einen realen Einkommensverlust von dreizehn Prozent hinnehmen.

Der radikale Umbau des gesamten Sozialsystems, der von Grünen und FDP mit der Steuerfinanzierung gefordert, von Wirtschaftsminister Müller und dem Bundeskanzleramt für die Gesetzliche Krankenversicherung mit der Privatisierung vorgeschlagen, von Verteidigungsminister Scharping mit Unterstützung von Schröder für die Sozialhilfe mit dem Arbeitszwang angemahnt wird, soll die Betroffenen weichkochen. Schuldige werden gesucht und gefunden. Einmal sind es die Leistungsanbieter und die Krankenkassen, dann sind es die jungen Menschen, die „arbeitsscheu“ sind. Die Qualität der Vorschläge lassen sich exemplarisch am Vorschlag Scharpings demonstrieren: Sozialhilfeempfänger sollen in der Krankenpflege und der Altenversorgung arbeiten, in Bereichen, in denen es auf eine professionelle Ausbildung ankommt. Einen noch einfältigeren Vorschlag konnte er nicht machen.

Die Privatisierung des Alters, der Arbeitslosigkeit, der Krankheit und Pflege bedeutet das endgültige Ende des sozialen Gedankens in der Mitte Europas. Kein Zweifel: die Zeiten haben sich geändert, also muß sich auch das deutsche Sozialsystem anpassen. Aber nicht so, daß das Sozialsystem verschwindet. Das Soziale verbindet die Generationen. Das Private verbindet nur die Versicherung mit dem Versicherten. Die Versicherungskonzerne freuen sich über die Billionen, die noch mehr Macht bedeuten. Damit lassen sich in einem unerhörten Maß Volkswirtschaften zerstören, Politiker korrumpieren, Menschen manipulieren. Wahlen sind nicht mehr nötig. Demokratie wird noch mehr zu einer Farce. Die Demokratie wird nur überleben, wenn sie sozial bleibt.


 
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