© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/01 31. August 2001

 
Aus einem Alptraum herausgeschrieben
Neuübersetzte Jubiläumsausgabe des Klassikers „Adrienne Mesurat“ von Julien Green
Doris Neujahr

Der junge Klaus Mann war verblüfft: Als er Julien Green (1900-1998),Verfasser des „Leviathan“ und der „Adrienne Mesurat“, dieser „Romane der Verzweiflung“, Ende der zwanziger Jahre kennenlernte, trat ihm statt des erwartenen „tragischen Alten (...) ein glatter, schlanker Jüngling von diskret kosmopolitischer Eleganz“ entgegen.

Klaus Mann interessierte, woher er seine düsteren Stoffe und Figuren nehme, die doch so gar nicht zu seinem eher lebensbejahenden Habitus paßten. Green antwortete ihm spöttisch-amüsiert: „Aber mein lieber Freund! Ich bin es doch nicht, der meine Romane schreibt! Ein anderer führt meine Hand, ein Fremder.“

Die Antwort enthält auch die Essenz seines Romans „Adrienne Mesurat“ (1927), der, passend zu Greens 100. Geburtstag am 6. September 2000, in einer Neuübersetzung veröffentlicht wurde. Denn wie aus dem Schlaf, genauer: wie aus einem Alptraum heraus geschrieben, liest sich die Geschichte der schönen 18jährigen Adrienne, die unter der tyrannischen Aufsicht ihrer älteren, kranken Schwester Germaine und ihres cholerischen Vaters in einer Villa in der südfranzösischen Provinz lebt. Als die altjüngferliche Germaine sich eines Tages zur Flucht entschließt, kommt es zu einem wilden Streit zwischen Adrienne und dem Vater, in dessen Verlauf sie ihn die Treppe hinunterstößt und dieser dabei zu Tode kommt.

Ein Mord oder Totschlag, aber auch eine Tat aus Verzweiflung, die in heutiger Zeit, in der die Selbstverwirklichung als höchster Wert gilt, sogar die Chance hätte, als Akt der Rebellion oder Emanzipation goutiert zu werden. Doch in Wahrheit hat ein unbarmherziges Schicksal Adrienne nur dazu ausersehen, die äußeren Hindernisse und Vorwände mit eigener Hand zu beseitigen, um sich dann desto leichter auf sie stürzen zu können. Sie bleibt die Gefangene des gespenstischen Hauses und ihrer unerträglichen Einsamkeit.

Der Roman ist zeitlos unter anderem wegen seiner berückend schönen Sprache, auch in der Übersetzung von Elisabeth Edl, und der naturalistisch genauen, dabei stets exemplarischen Szenen. Gleich zu Beginn des Romans tritt Adrienne vor ein Foto-Arrangement, „Der Friedhof“ genannt, mit den Porträts ihrer Vorfahren, bei deren Anblick „sich einem sogleich das Bild einer Mauer“ aufdrängt. Das Leben ist ihr als tragischer Passionsweg vorherbestimmt und muß unausweichlich im Wahnsinn enden.

Walter Benjamin schrieb 1928, „Adrienne Mesuratt“ sei ein „Beweisstück in einem historischen Prozeßverfahren, das noch gar nicht eröffnet wurde“. Der heutige Leser, je weiter er in der Lektüre vordringt, sieht längst beklommen der Urteilsverkündung entgegen.

 

Julien Green: Adrienne Mesurat. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Mit einem Nachwort v. Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag München 2000, 311 Seiten, 39,80 Mark


 
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