© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/01 31. August 2001

 
CD: Pop
Nicht fürs Radio
Rupert Lenz

Irgendwie müssen sie schon am Verzweifeln sein: Seit acht Studioalben mit „neuem“ Sänger Steve Hogarth und längst musikalisch auf höchstem Niveau im Hier und Jetzt angekommen, werden Marillion – erinnert sich noch jemand an „Kayleigh“? – ihre Vergangenheit mit Fish (Achtziger-Jahre-Neo-Genesis-Prog-Rock) einfach nicht los. Woran das liegt? Womöglich an der mangelnden Bereitschaft, sich zu öffnen und wirklich zuzuhören in unserer Ex-und-Hopp-Format-Radiozeit. An der Musik von Marillion kann es nicht liegen: Handwerklich über alle Zweifel erhaben und mit Hogarths außerweltlicher Stimme unverwechselbar geworden, bietet auch ihr neuesten Werk „Anoraknophobia“ (EMI) wieder hervorragende Songs. Die acht akustischen Gemälde, deren Texte den ein oder anderen Blick in das humorvoll gestaltete Booklet nahelegen, erinnern mal an Massive Attack, mal an Radiohead, Steve Rhotherys Stromgitarren beleihen nicht selten U2, doch letztlich gehen die fünf unbeugsamen Briten ihren eigenen Weg, der 1989 mit „Season’s End“ – dem einzigen musikalischen Bindeglied zur Fish-Ära – begonnen hat. 

Ermöglicht wird ihnen das nicht zuletzt durch die starke Unterstützung ihrer Fans, die über die Homepage der Band auf dem laufenden gehalten werden. Nachdem der letzte Plattenvertrag ausgelaufen war, fanden sich derer über 13.000, die bereit waren, für „Anoraknophobia“ im voraus zu bezahlen, was Marillion absolute künstlerische Freiheit garantierte und schließlich wieder in den Schoß ihrer alten Firma EMI zurückbrachte, die nahezu risikolos den CD-Vertrieb übernahm. Durchaus ein Modell, das Schule machen könnte, vor allem, wenn dabei radiountaugliche Songs wie „Map of the World“ oder „Between you and me“ herauskommen. Die Juwelen auf diesem Album aber sind das hypnotische „Quartz“, die herzzerreißende Elegie „When I meet God“ und das Drum’n’ Basslastige „This is the 21st Century“. 

Allesamt fürs Radio zu lang und fürs Nostalgiepublikum wohl zu modern. Sei’s drum: Wer mal etwas anderes hören will als den Einheitsbrei der Charts, der sollte es mit Marillion versuchen. Es könnte sein, daß auch er das nächste Mal gerne im voraus für eine CD bezahlt, von der er noch keinen Ton gehört hat. Für Neueinsteiger gibt es aber auch noch den Back-Katalog zu entdecken, der unter anderem mit „Marillion.com“, „This strange Engine“ und „Brave“ weitere schimmernde, verkannte Meisterwerke bietet. Unverbesserliche Altfans aber müssen sich wohl oder übel mit den alten Marillion-CDs zufrieden geben, denn auch Derek Dish alias Fish hat sich deutlich entfernt vom Prog-Rock vergangener Zeiten. Seine aktuelle CD „Fellini Days“ aber leidet – wie bereits der Vorgänger – unter dem großen Manko, daß die Stimme des Meisters nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. 

Dabei ließ sich Fishs Solokarriere vielversprechend an: „Virgil in a Wilderness of Mirrors“ (1989) war ein Klasse-Album, das sich auch gut verkaufte. Aber davon sah der Künstler nicht viel, denn EMI zahlte ihm nur ein Fünftel seiner Tantiemen aus, entsprechend den Verträgen, die Fish noch als Marillion-Mitglied unterschrieben hatte. Es folgten zwei Alben beim Polygram-Konzern, der den vor Gericht unterlegenen Sänger aus dem EMI-Deal mit einem Vorschuß freikaufte. Dadurch überschuldete Fish sich hoffnungslos, da die Verkaufszahlen enttäuschend waren. Das daraufhin gegründete eigene Label (Dick Bros.) und Tonstudio gingen pleite, und mittlerweile klingt Fish (hierzulande beim Indie-Vertrieb EFA gelandet) so depressiv, daß man Angst um ihn bekommen kann. Vielleicht hätte Federico Fellini, dem das Album gewidmet ist, sich ja über diesen surrealistischen Horrortrip gefreut. Oder gleich einen Film dazu gedreht.


 
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