© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/01 31. August 2001

 
Der dritte Mann aus Belfort
Frankreich: Am Wochenende will Ex-Minister Chevènement seine Präsidentschaftskandidatur bekannt geben
Charles Brant

Ein Jahr nach seinem Rücktritt als Innenminister erwägt Jean-Pierre Chevènement, 2002 für das Amt des französischen Präsidenten zu kandidieren. Seine Entscheidung will er am kommenden Sonntag öffentlich bekanntgeben. Von jeglicher Pflicht zur Zurückhaltung entbunden, nimmt Chevènement kein Blatt mehr vor den Mund. Die Kritik, die er in mörderischen Rundumschlägen austeilt, ist eine fulminante Mischung aus Emphase, Ironie und schonungsloser Offenheit. „Untergang“ gehört zu den Wörtern, die er am häufigsten auf den Lippen führt. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis er vollends der gaullistischen Rhetorik verfällt und Frankreich das „Chaos“ prophezeit.

Der frühere Minister macht vor niemandem halt: nicht vor dem Staatspräsidenten - für den er noch nie viel übrig hatte - und schon gar nicht vor dem Premierminister, dem braven Genossen Lionel Jospin mit seiner pluralistischen Linken, die inzwischen auch die Grünen umschließt. Chevènement scheint es geradezu teuflischen Spaß zu machen, über die unnütze französische Diplomatie zu spotten oder sich über den Anstieg der Kriminalität aufzuregen. Daß er am 29. August vergangenen Jahres als Innenminister zurücktrat, war dem Abkommen von Matignon über das korsische Autonomiestatut zu verdanken. Als Jakobiner ohne Furcht und Tadel konnte er mit diesem Anschlag auf die „Einheit und Unteilbarkeit der Republik“ politisch nicht mehr leben. Heute berichtigt er sich selbst, indem er sagt: „Mir geht es nicht um Korsika, sondern mir geht es um eine bestimmte Vorstellung von Frankreich.“ Une certaine idée de la France - genauso hieß es einst bei Charles de Gaulle.

Mit 62 Jahren wirkt Chevènement so lebendig wie ein Jüngling. Dieser Herold des „republikanischen Sozialismus“, der sich im Alter zum glühenden Gaullisten gemausert hat, kultiviert eine Ausdrucksweise von verblüffender Durchschlagkraft und spartanischer Strenge. Von Frevel und Blasphemie ist da die Rede, „das republikanische Gesetz“ müsse „geachtet werden“, fordert der frühere Innenminister. Der kommunistische Historiker Michel Vovelle rechnet ihn zu den „letzten Jakobinern“ - nun schickt sich Chevènement an, sich für das höchste Staatsamt zu bewerben. Seinen Parteifreunden schwor er schon vor zwei Monaten in Marseille: „Sollte ich mich im September zu einer Kandidatur entschließen, können Sie ein hundertprozentiges Engagement von mir erwarten!“

Da Präsidentschaftskandidaten parteiunabhängig antreten müssen, hat Chevènement vorsichtshalber den Vorsitz des Mouvement des Citoyens (MDC) an Georges Sarre abgetreten. Diese „Bewegung der Bürger“ hat sich 1992 von der Sozialistischen Partei abgespalten und hat nach eigenen Angaben mittlerweile sechstausend Mitglieder. Als Wahlkampfleiter hat Chevènement sich schon einen hohen MDC-Funktionär ausgeguckt, als Hauptquartier wurden Räumlichkeiten in der Nähe der MDC-Zentrale angemietet, und seine Freunde warten schon in den Startlöchern. Die Unterstützung Régis Debrays (Berater von François und Danielle Mitterrand) und Max Gallos - des ehemaligen Ministers und Autors von Werke über Napoléon und de Gaulle - und einiger weiterer prominenter Persönlichkeiten ist ihm sicher.

Derzeit erholt sich der Kandidat in spe noch auf Inis er Gerveur (Belle Île), einer Insel vor der Bretagne. Seine endgültige Entscheidung will er an diesem Wochenende in Belfort der Öffentlichkeit bekanntgeben, wahrscheinlich medienwirksam vor dem steinernen Löwen, der die Résistance symbolisiert. Belfort, das sein elsässisches Erbe völlig aus seinem Gedächtnis verdrängt hat, ist mehr als Chevènements Geburtsort. Belfort schenkte ihm 1973 sein erstes Abgeordnetenmandat und zehn Jahre später die Bürgermeisterschärpe. Sein Nachfolger im Rathaus ist der Kommunist Jackie Drouet. Aber auch heute noch ist Chevènement derjenige, der in Belfort viele Fäden zieht.

Dieser moderne Saint-Just, der auf die Macht des Wortes - und auf eine ausgeprägt kriegerische Rhetorik - vertraut, hat eine lange Odyssee hinter sich. Er entstammt einem bescheidenen Milieu - seine Eltern waren Volksschullehrer -, begann sein Studium in Besançon und beendete es in Paris. Dann wurde er zum Armeedienst in Algerien eingezogen, wo er es zum Reserveoffizier brachte. Im Gegensatz zu vielen seiner sozialistischen Genossen drückte sich Chevènement nicht vor seiner Staatsbürgerpflicht. Er wurde in Algerien verwundet und kehrte nach Paris zurück, um dort an der Staatlichen Verwaltungsakademie (ENA) zu studieren.

Guy Mollets SFIO (Französische Sektion der Internationalen Arbeiterbewegung) schloß er sich in der Absicht an, sie politisch zu radikalisieren. An der Sozialdemokratie und der Bourgeoisie ließ er kein gutes Haar in seinen wüsten Reden. Chevènement hatte einen Traum: eine Massenpartei, die den Bruch mit dem kapitalistischen System herbeiführen sollte. Gemeinsam mit Georges Sarre und Alain Gomez gründete er 1966 ein „Zentrum für sozialistische Studien, Bildung und Forschung“ (CERES). CERES steht für eine heroische Vision des Marxismus und ist dank Chevènement zu einer mächtigen Waffe im Propagandakrieg geworden. Ohne seine Unterstützung wäre Francois Mitterrand wohl niemals Chef der Sozialistischen Partei geworden. Der Preis, den er dafür zahlen mußte, war, die CERES-Strategie eines Bündnisses zwischen Sozialisten und Kommunisten zu übernehmen.

Nachdem Mitterrand 1981 zum französischen Präsidenten gewählt worden war, blieb Chevènement seiner harten Linie treu. Mit sozialistischen Reformisten vom Schlag eines Michel Rocard - von 1981 bis 1985 Wirtschaftsminister, von 1988 bis 1991 Premier - hatte er nichts am Hut. Zur Belohnung berief Mitterrand ihn zum Staatsminister. Zunächst (1981/1982) für Forschung und Technologie zuständig, konnte er sein Portfolio schnell auffüllen und wurde Minister für Forschung und Industrie (1982/83). Chevènement trat auf wie ein wiederauferstandener Colbert, redete dem „industriellen Sozialismus“ und dem „Volontarismus“ das Wort, wetterte gegen verstaatlichte Betriebe - sehr zum Mißfallen Mitterrands. Der sagte: „Ein Minister hat das Maul zu halten. Wenn er es öffnen will, muß er zurücktreten.“ Prompt erklärte Chevènement seinen Rücktritt - zwei weitere nicht weniger spektakuläre Rücktrittserklärungen standen im Laufe seiner politischen Karriere noch bevor.

Von 1984 bis 1986 saß er als Bildungsminister im Regierungskabinett. Er verkündete, die Schule habe die Pflicht, „Lesen, Schreiben und Rechnen“ zu lehren, und bemühte sich um eine Wiedereinführung des Fachs Staatsbürgerkunde. Zwei Jahre später wird er Verteidigungsminister. Seine sozialistische Vorbildung und sein Bekenntnis zu den Tugenden der Spartaner (arm und heroisch) kommen ihm gleichermaßen zustatten.

Aus Protest gegen Frankreichs Rolle im Golfkrieg tritt er 1990 zurück. In Lionel Jospins Kabinett bekleidete er schließlich das Amt des Innenministers. Schnell gelang es ihm, sich sowohl bei der Polizei als auch bei den Bürgern beliebt zu machen, die sich dank seiner energischen Reden auf einmal viel sicherer fühlten. In Wirklichkeit sagte er niemals mehr, als daß „das republikanische Gesetz“ respektiert werden müsse. Diese Therapie scheint nirgends angeschlagen zu haben, denn die Kriminalität befindet sich überall auf dem Vormarsch - sogar in Belfort. Schwere gesundheitliche Probleme beeinträchtigten seine Arbeitsfähigkeit, und als er im Dezember 1998 aus dem Krankenhaus entlassen wurde und seine Tätigkeit als Minister wieder aufnahm, sprach man von einem „Wunder“. Vor einem Jahr trat er dann zurück.

Chevènement, der sich gerne als Deutschlandkenner gibt, löste einen Skandal aus, als er im Zusammenhang mit dem Europa-Entwurf des deutschen Außenministers Joseph Fischer den „deutschen Volksgedanken“ anprangerte. Er lehnt alle Formen des Föderalismus wie des Regionalismus grundsätzlich ab und hat sich zum Verteidiger des Nationalstaats aufgeschwungen. Die „Nation“, auf die er sich dabei beruft, ist nicht völkisch konzipiert, sondern beruht auf dem Konzept der Staatsbürgerschaft, das aus den revolutionären Gründungsjahren der Republik stammt.

Angesichts der Affären um Chirac und der Blässe von Premier Jospin hat Chevènement durchaus Chancen auf einen Einzug in den Elysée-Palast: Mit linkem „sozialen Herz“ und jakobinischer Rhetorik gegen Korruption und Kriminalität könnte er sogar Stimmen aus dem Wählerreservoit von Front National-Chef Jean-Marie Len Pen abziehen.


 
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