© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/01 24. August 2001

 
Nation ist mehr als Revolution
von Karlheinz Weissmann

Wenn Edouard Driault in seinem 1914 erschienenen Buch L’unité française urteilte, Frankreich sei wegen seiner außerordentlichen Geschlossenheit die „vollkommenste Nationalität der Welt“, dann war das eine optimistische Behauptung. In den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs hätte ihm wohl kaum ein Beobachter zugestimmt. Nicht die Einheit Frankreichs wurde allgemein konstatiert, sondern sein Zwiespalt. Fast sprichwörtlich war die Rede von den „deux Frances“, dem „schwarzen“ und dem „roten“, dem der katholischen Tradition und dem des Laizismus, dem des Syllabus und dem der Menschenrechte, dem des Landes und dem der Stadt. Paris, das war das Symbol des Fortschritts, aber in der Vendée gab es Orte, auf deren Rathäusern noch nie die Trikolore geweht hatte. Gerade durch die Dreyfus-Affäre war der Konflikt zwischen den beiden Frankreich wieder aufgebrochen und schien eine schwärende Wunde im Körper der Nation zu hinterlassen. Sie heilte tatsächlich erst mit der Wendung gegen den äußeren Feind, das „germanische“ Deutschland, und die Vorstellung, Frankreich führe noch einmal den „Kampf des Rechts“ gegen einen barbarischen Feind. Das ließ sich aus der Überlieferung der Kreuzzüge ebenso verstehen wie aus der Erinnerung an das Jahr 1793.

Die union sacrée, die „heilige Einheit“, in der die Parteien von der äußersten Linken bis zur Action Française zusammentraten, konnte nicht wirklich die Differenzen verschwinden lassen, aber sie konnte sie unterordnen, faktisch zum Nachteil des alten, des traditionalistischen Frankreich. Zuletzt triumphierte die republikanische Vorstellung von der Nation, verleibte sich ein, was ihr brauchbar schien, und schied das übrige aus. Kein anderer hat das so verkörpert wie Georges Clemençeau, der während des Krieges mit diktatorischer Vollmacht regierte, und die Opposition der Kammern unter drohendem Hinweis auf die Volksmeinung zum Schweigen brachte. Clemençeau ist es bei den Verhandlungen über den Versailler Vertrag zwar nicht gelungen, die Forderungen der Maximalisten gegenüber dem besiegten Deutschland durchzusetzen - Aufteilung und Annexion des westlichen Rheinufers -, aber er hat doch zu verhindern gewußt, daß die angelsächsischen Mächte das „Sicherheitsbedürfnis“ Frankreichs im Namen des europäischen Gleichgewichts ignorierten. Mit Blick auf die Deutschen stammte von Clemençeau auch das böse Wort, es gebe zwanzig Millionen zuviel von ihnen.

Nach dem unter großen Opfern errungenen Sieg von 1919 wurde in Frankreich ein patriotischer Kult ohnegleichen entfacht, der bis heute seinen sichtbaren Ausdruck in den Gefallenendenkmälern findet, die man praktisch in jedem französischen Ort errichtete. Ihr Zentrum bildete das 1921 angelegte Grab für den unbekannten Soldaten unter dem Triumphbogen in Paris. Das militärische Zeremoniell bei den offiziellen Feiern, die Aufmärsche der Veteranen, die rituellen Handlungen, die sich mit der Erinnerung an die Toten verbanden, wurden Teil einer säkularen Bürgerreligion, die das pro patria mori nur noch fern aller christlichen Bezüge verstand.

Es hat die Schaffung der nationalen Synthese im Grunde nur noch eine Unterbrechung erfahren mit der militärischen Niederlage von 1940. Das Vichy-Regime brach zwar nicht völlig mit der Überlieferung, aber in entscheidenden Elementen stand die Ideologie des État Français doch im Widerspruch zur gesamten revolutionären Tradition: Der Rekurs auf die katholische Überlieferung und die positive Wertung der Monarchie, die Bedeutung der Familie und des pays réel zeigten eine konservative Denkstruktur, die mit ihrer Absage an jede universelle Sendung einen deutlichen Kontrast zu den „Ideen von 1789“ bildete. Es haben dieses Experiment ebenso wie die (bedingte) Kollaboration unter den besonderen Umständen der Zeit einen breiten Anhang unter den Franzosen gefunden, allerdings nicht auf Dauer, und es ist bezeichnend, daß de Gaulle, der Pétain in vielem ideologisch nahestand, doch nach der Befreiung Frankreichs ohne Zögern zu dem Konzept einer republikanischen Integration der verschiedenen Strömungen des nationalen Selbstverständnisses zurückkehrte.

„In meinen Augen kann Frankreich kein Frankreich ohne Größe sein. ... Nichts beeindruckte mich mehr als die Symbole unseres Ruhms: die Nacht, die sich auf Notre-Dame senkte, die Majestät des Abends in Versailles, der Triumphbogen im Sonnenlicht, die eroberten Fahnen, die sich unter dem Gewölbe der Invalidenkirche leise bewegten ...“. So hat de Gaulle selbst den Ursprung seiner Auffassung von Frankreich beschrieben. In seinen Reden während der Kriegszeit verzichtete er selten darauf, die eintausendfünfhundert Jahre der französischen Geschichte zu beschwören, seine Truppen kämpften unter dem Lothringer-Kreuz als deutliche Reminiszenz an Jeanne d’Arc, der Krieg war für ihn eine Fortsetzung des seit der Habsburger Zeit andauernden Konflikts mit dem Reich, sein Affekt gegen die angelsächsischen Verbündeten, insbesondere Großbritannien, speiste sich aus der langen Tradition, die solche Empfindungen im französischen Nationalismus hatten. Bei allem folgte de Gaulle einer Vision „französischer Größe“, die in erster Linie seine Außenpolitik bestimmte, begonnen mit der vorsichtigen Annäherung an die Sowjetunion über das Ausscheren aus der militärischen Organisation der Nato, endend bei dem Entschluß, Frankreich eine eigene atomare Streitmacht zu sichern. Aber auch die Gründung der Fünften Republik selbst in einer Art von kaltem Staatsstreich sollte die Voraussetzungen schaffen, die Souveränität des Landes neu zu begründen, und noch die Aufgabe Algeriens, die ihm von den traditionellen Nationalisten und der droite fascisante niemals verziehen wurde, gehört in diesen Zusammenhang. Der Präsident-General löste die Reste des empire auf, damit Frankreich „... seine Zeit heiraten“ konnte.

Der Entschluß, modern zu sein, hat die Zeitgenossen niemals so irritiert wie die Fixierung de Gaulles auf das „ewige Frankreich“. Aber gerade diese „bestimmte Vorstellung“ erwies sich als wirkmächtig und hat der Staatsideologie der Fünften Republik eine Konsistenz verliehen, die schließlich sogar ihre Gegner gewann. Mitterrand, der in der ganzen Nachkriegszeit zu den Feinden de Gaulles gehörte, hat doch in seiner Amtszeit als Präsident vom „Sozialismus in den Farben der Trikolore“ bis zum Rekurs auf die keltische Identität Frankreichs ein symbolisches Repertoire verwendet, das ausdrücklich an das gaullistische anknüpfte. Bei allen parteipolitischen Differenzen teilte er offenbar in vielem die „certaine idée de la France“, wie sie de Gaulle formuliert hatte: „Mein ganzes Leben lang habe ich mir von Frankreich eine bestimmte Vorstellung gemacht. Herz und Sinn drängen mich gleicherweise dazu. Alles was sich in uns regt, stellt sich natürlich Frankreich als einem erhabenen und außerordentlichen Schicksal geweiht vor - gleich der Prinzessin im Märchen oder der Madonna auf einer Freske. Ich habe instinktiv den Eindruck, daß die Vorsehung Frankreich für vollkommene Erfolge oder für beispielloses Unglück geschaffen hat. Wenn trotzdem irgendwann einmal die Mittelmäßigkeit Tun und Lassen des Landes bestimmt, so habe ich den Eindruck einer absurden Anomalie, die den Fehlern der Franzosen, nicht aber dem Genie des Vaterlandes zuzuschreiben ist. Meine ganze Erfahrung lehrt mich aber überzeugend, daß Frankreich nur Frankreich ist, wenn es an erster Stelle steht. Einzig große Unternehmungen sind geeignet, dem Keim des Zerfalls entgegenzuwirken, welchen das französische Volk in sich trägt. Unser Land muß, so wie es zwischen anderen Ländern heute existiert und so wie diese anderen Länder sind, hoch hinauszielen und sich geradehalten, will es sich nicht tödlicher Gefahr aussetzen. Kurz - in meinen Augen kann Frankreich ohne Größe nicht Frankreich sein.“

Jede konkrete Ausformung des französischen Nationalbewußtseins stellt unter Beweis, wie mächtig seine verschiedenen Antriebe geblieben sind. Die Vorstellung, daß für den Patriotismus à la française allein der „republikanische“ Gedanke bestimmend sei, wie vor allem in Deutschland oft behauptet wird, ist abwegig. Die francisation ist nicht in erster Linie der Niederschlag einer großen humanitären und universalen Tradition, sondern ein Ergebnis des an den Staat gebundenen Nationenverständnisses einerseits, der aus der französischen Demographie entstandenen Zwänge andererseits. In Frankreich hat man sich seit dem 19. Jahrhundert vor allem deshalb einer relativ großzügigen Einbürgerungspraxis befleißigt (etwa ein Drittel der gegenwärtig lebenden Franzosen hat ausländische Vorfahren), weil das Land bereits seit 1840 unter dauerndem Bevölkerungsschwund litt und deshalb Arbeitskräfte sowie Soldaten (nach 1871 für die kommende Revanche gegen Deutschland) brauchte.

Nirgends in Europa gibt es übrigens eine so starke nationalistische Opposition gegen die vermehrte Einwanderung. „Völkische“ Einstellungen sind dort trotz offiziell ganz anders lautender Erklärungen weit verbreitet und finden einen Anhalt an dem als „politisch korrekt“ geltenden Kult um den keltischen Führer Vercingetorix und dessen tragisches Schicksal. 1989 begannen Valéry Giscard d’Estaing und sein Gegner Jacques Chirac den Europa-Wahlkampf an jenem Ort, wo einmal Gergovia gelegen hatte. Der zeitgenössische Betrachter sollte die Erinnerung an den „ersten französischen Sieg“ mit dem gegenwärtigen Kampf für die nationale Identität verbinden. Ein ganz ähnliches Kalkül hatte schon vier Jahre zuvor hinter dem Entschluß Mitterrands gestanden, das ehemalige Oppidum Bibracte, wo es Vercingetorix gelungen war, die gallischen Stämme zu einen, zur nationalen Gedenkstätte zu machen, weil hier der „erste Akt“ der französischen Geschichte vollzogen worden sei; es gab immer wieder Gerüchte, daß er gewünscht habe, oberhalb der Anlage bestattet zu werden.

Franzosen mögen gegen die Vorstellung von der Nation als einer ethnischen Gemeinschaft noch so scharf polemisieren, sie als „romantisch“ und „antirepublikanisch“ brandmarken, eigentlich wirft man ihr vor, daß sie die „Kräfte des Zerfalls“ freisetze, daß sie Separatismen züchte und den Staat in Frage stelle. Der Kern der französischen Vorstellung von der Nation ist Etatismus. Daher die Verteidigung des héxagone, das von Rhein, Alpen, Mittelmeerküste, Pyrenäen, Biskaya und Kanalküste gebildet wird, und mit seinen „natürlichen Grenzen“ zu den Voraussetzungen der französischen Republik gehörte und gehört.

Deshalb war es durchaus keine Marotte, wenn der sozialistische Innenminister Jean-Pierre Chevènement im Herbst des Jahres 2000 seinen Rücktritt erklärte, nachdem die Regierung, der er angehörte, Korsika und anderen Regionen größere Selbstbestimmung einräumen wollte; Chevènement sah die „natürlichen Grenzen“ und damit die Einheit Frankreichs in Gefahr.

Die nach außen gerichtete Seite der französischen Politik folgt nach wie vor dem Prinzip des nationalen Interesses. Die Rechte gibt das offener zu erkennen, die Linke spielt gekonnter auf der Klaviatur der „Ideen von 1789“. Aber in ihren Reihen gibt es nach wie vor zahlreiche Jakobiner, für die als „Maxime des gesunden Menschenverstandes“ gilt: „Frankreich ist nur sich selbst verpflichtet.“ (Régis Debray) Die Politik des nationalen Vorteils etwa im Blick auf die europäischen Institutionen ist aber selbstverständlich auch ganz traditionell zu deuten: als Erfüllung von „Richelieus Testament“, zu dem Zweck, einen Machtzuwachs Deutschlands zu verhindern, oder um Großbritannien vom Kontinent fernzuhalten.

Keine Nation kann die Prägung durch die großen Entscheidungen ihrer Vergangenheit abstreifen. Sie wird bestimmt von Impulsen, die zum Teil sehr weit zurückliegen und sich zu verschiedenen Zeiten verschieden stark ausgewirkt haben, ganz verschwunden zu sein schienen und dann in veränderter Gestalt wiederkehrten. Frankreich bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Viele Beobachter haben mit Irritation zur Kenntnis genommen, daß man sich gerade in diesem als vorbildlich „modern“ betrachteten Nationalstaat ganz resistent gegen die Aufklärung bestimmter patriotischer Mythen zeigt. Weder die Kontinuität zu den Galliern wird ernsthaft in Frage gestellt noch die Vorstellung von der harmonischen Selbstentfaltung der französischen Nation, die aus mittelalterlichen Anfängen entstand und sich in einer universalen und humanitären Gestalt vollendete. Diese religion nationale, die an die Stelle der älteren religion royale getreten ist, kennt auch die Methode der Kanonisierung, die durch offizielle Stellen - wie die Archives de France beziehungsweise den Conservateur général du Patrimoine - nicht nur die lieux de memoires, die zentralen Orte nationaler Erinnerung, verzeichnen und für ihre Erhaltung Sorge tragen, sondern auch das Kalendarium der Jubiläen und staatlichen Feiertage aufstellen.

Wie wirksam die bei solchen Gelegenheiten nötigen Glättungen vor sich gehen, konnte man zuletzt bei der célébration des 1500. Jahrestags der Taufe des Frankenkönigs Chlodwig im September 1996 beobachten, die anfangs in einen Konflikt zwischen kirchlichem Gedenken an die „Taufe Frankreichs“ und staatlicher Erinnerung an den „Gründer“ Frankreichs zu führen schien, aber dann ganz friedlich begangen wurde in einer für diese Nation typisch gewordenen Synthese.

Um die darin liegende Leistung richtig zu bewerten, ist ein Hinweis auf jene Passage in Ernest Renans Text über das Wesen der Nation wichtig, in der es heißt, die Nation entstehe nicht nur durch die kollektive Erinnerung, sondern auch durch das kollektive Vergessen: „Das Vergessen, und ich möchte sagen auch der historische Irrtum, sind ein wesentlicher Faktor bei der Schaffung einer Nation, es ist deshalb der Fortschritt der historischen Studien oft eine Gefahr für die Nationalität. Die historische Untersuchung holt die Gewalttaten, die am Ursprung der politischen Formationen standen, wieder an das Licht, auch diejenigen, von denen außerordentlich wohltätige Folgen ausgingen. Die Einheit ist immer brutal hergestellt worden ... jeder französische Bürger muß die Bartholomäusnacht vergessen haben und die Massaker im Süden während des 13. Jahrhunderts.“ Die Reihe ließe sich erheblich verlängern.

 

Fototext: „Le Départ des voluntaires de 1792“, genannt „La Marseillaise“, von François Rude (1784-1855): Der Missionsdrang der französischen Ideen hat sich immer auch der Intellektuellen bemächtigt.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium. Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus seinem neuen Buch „Nation?“ (Edition Antaios, Alte Frankfurter Straße 54, Bad Vilbel 2001)


 
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