© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/01 24. August 2001


Gewalt wird zur Seuche
Frankreich: Rund um die Ballungsräume sind „rechtlose Zonen“ entstanden / Kriminalität als Wahlkampfthema
Charles Brant

Der Mangel an innerer Sicherheit hat sich zur Hauptsorge der Franzosen entwickelt. Seit drei Jahr-zehnten gehört das Verbrechen zu den Wirtschaftszweigen, die ein stetiges Wachstum verzeichnen. Paris ist heute eine Stadt, in der Touristen sich zu Recht fürchten. Und die Gewalt auf den Straßen ist kein Großstadtphänomen mehr - längst hat sie auch kleinere Orte erreicht.

Als sie im Mai 1981 an die Regierungsmacht kam, wurde die Linke nicht müde, sich über den „Sicherheitswahn“ ihres politischen Gegners lustigzumachen. Selber mit den unschönen Realitäten konfrontiert, befleißigte sie sich zunächst einer Rhetorik, die den Kriminalitätsanstieg banalisieren sollte. Neue Begriffe fanden Eingang in das politische Vokabular; Euphemismen wie incivilité („Unhöflichkeit“) oder sauvageon („Wildpflanze“) mußten herhalten, um eine Situation zu verschleiern, die zunehmend unerträglich wurde. Neuerdings wurde die Sicherheit zu einem „republikanischen Recht“ erklärt - am Vorrang der Verbrechensverhinderung gegenüber dem Strafvollzug hält man allerdings nach wie vor fest. Solch laxe Handhabung schlägt sich in der Statistik nieder. Die Zahl der Schwerverbrechen wie auch der Delikte steigt seit nunmehr dreißig Jahren an. Laut offiziellen Angaben haben die der Polizei gemeldeten Vergehen allein in den letzten sieben Monaten um fast zehn Prozent zugenommen. Schon im vergangenen Jahr betrug die Zuwachsrate 5,7 Prozent. Schuld daran ist nicht allein das erhöhte Diebstahlsaufkommen: Seit 1972 hat sich die Zahl der Angriffe und Körperverletzungen vervierfacht.

Paris, seit Caesars Zeiten die „Stadt des Lichts“, ist heute eine „Stadt der Diebstähle am hellichten Tag“, wie die Londoner Sunday Times am 15. Juli frotzelte. Der französischen Tageszeitung Le Monde zufolge wurden in der Hauptstadt letztes Jahr 30.000 Taschendiebstähle begangen. Die Opfer waren meist ausländische Touristen. Am größten ist die Gefahr in den Warteschlangen vor den Museen sowie auf den Métro-Strecken, die die Flughäfen bedienen. Die US-Botschaft und das britische Außenministerium empfehlen ihren Bürgern mittlerweile, „heiße Viertel“ wie etwa Pigalle zu vermeiden. Auch Japans Botschaft gibt regelmäßig Warnungen aus - im Jahr 2000 mußte sie 720 gestohlene Pässe ersetzen. Was Le Monde verschweigt, ist, daß selbst Luxusgegenden wie die Champs-Elysées nicht sicher sind. Nicht nur vor Taschendieben muß man auf der Hut sein; auch Vergewaltigungen sind hier schon vorgekommen.

In Nizza und an der gesamten Côte d’Azur gibt es seit geraumer Zeit Banden, die mit Motorrollern durch die Straßen brausen. An roten Ampeln öffnen sie Autotüren und dringen in Autos ein, um die erschrockenen Insassen zu berauben. Für jeden dieser Missetäter, dessen die Polizei habhaft wird, bildet sich eine aber neue Bande.

Doch diese Gewalt, über die sich die Auslands-Presse so empört, ist gar nichts im Vergleich zu den Gefahren, denen der Durchschnittsfranzose Tag für Tag ausgesetzt ist. In den französischen Metropolen gehören Überfälle in den öffentlichen Verkehrsmitteln längst zur Normalität. In die Schlagzeilen gerieten sie erst, als die Beschäftigten der RATP (Autonome Verwaltung der Pariser Verkehrsmittel) streikten. Der Versuch, die Gewalt in den Griff zu kriegen, führte schon zur Bildung von Spezialeinheiten. Ein besonders beunruhigendes Phänomen ist die Gewalt an den Schulen. Die Übergriffe richten sich gegen Lehrer oder andere Schüler, die oftmals mit Drohungen und Schlägen unter Druck gesetzt werden. Vor allem in den Vorstädten, wo die Klassen sich aus bis zu vierzig verschiedenen Nationalitäten zusammensetzen, wütet diese Art von Aggression. Von dort aus breitet sie sich wie eine Seuche aus.

Rund um die städtischen Ballungsräume sind ganze „rechtlose Zonen“ entstanden. Hier ist die Gewalt allgegenwärtig. Weder Polizisten noch sonstige Autoritätsfiguren wagen sich in diese Gebiete. Feuerwehrfahrzeuge werden mit Steinen beworfen, und sogar Ärzte und Rot-Kreuz-Mitarbeiter fallen Gewalttaten zum Opfer. Seit kurzem werden die Randstädte obendrein von einer Welle sogenannter tournantes heimgesucht. Bei diesen Vergewaltigungen nach dem „Rotationsprinzip“, die in den Kellern der riesigen Wohnkomplexe begangen werden, fallen Gruppen von Jugendlichen zumeist ausländischer Abstammung über junge Europäerinnen her. Dieselben „Jugendlichen“ machen auch ansonsten auf sich aufmerksam: Am hellichten Tag kommt es zu regelrechten Schlachten wie der, die am 27. Januar dieses Jahres mitten in Paris, zehn Minuten vom Triumphbogen entfernt, ausgetragen wurde. Die zwei- bis dreihundert Teilnehmer waren mit Eisenstangen und Fleischermessern bewaffnet. Erst nach drei Stunden konnte die Konfrontation beendet werden. Anschließend wurden einige Täter vorübergehend festgenommen, während Soziologen, Polizisten und Sozialpädagogen in Talkshows über die Beweggründe dieser „ethnischen Gangs“ debattierten. Politiker hatten gerade dringendere Probleme: Sie waren mit dem Anstieg der Handy-Diebstähle befaßt.

Anders als in Großbritannien kommt es in Frankreich nicht zu „rassistisch motivierten“ Reaktionen. Die Autochthonen lassen sich mittlerweile alles gefallen. Das offiziell als „heikel“ eingestufte Toulouser Viertel Montmirail befand sich mehrerer Nächte lang im Ausnahmezustand. Im Fernsehen liefen eindrucksvolle Bilder eines städtischen Guerillakrieges. In der Nähe von Dünkirchen zerstörte eine Jugendbande eine Sporthalle. Ein junger Einwanderer wurde erschossen, als er sich in einen Streit einmischte, in den sein jüngerer Bruder verwickelt war. In Straßburg brannten in der Silvesternacht Hunderte von Autos, und immer wieder kommt es in der Innenstadt zu Gewaltausbrüchen. Am schlimmsten sieht es in den Stadtteilen Haute-Pierre und Neuhof aus, die einen sehr hohen allochthonen Bevölkerungsanteil aufweisen. Catherine Trautmanns Abwahl als sozialistische Bürgermeisterin der Elsaß-Metropole ist ursächlich auf die wachsende Verunsicherung der Bürger zurückzuführen.

Daniel Vaillant, der Nachfolger des vor einem Jahr zurückgetretenen Innenministers Jean-Pierre Chevènement, scheint den Ereignissen nicht gewachsen. Der Pariser Bezirk, in dem er Bürgermeister ist - das 18. Arrondissement -, gehört zu den unsichersten Gegenden der Stadt. Die Polizei gesteht ihre Ohnmacht ein. Das liegt weniger an der Truppenstärke als daran, daß sie nicht optimal eingesetzt werden. Zu viele von ihnen müssen vor Ministerien oder vor den Residenzen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Wache schieben und werden als Geleitschutz abgestellt, statt auf den Straßen Verbrechen zu bekämpfen. Die Polizisten selber machen Vorschriften verantwortlich, die der Polizei die Beweislast zuschieben und Minderjährigen Straffreiheit zusichern. Sie beklagen sich über die zu große Nachsichtigkeit der Richter, die wiederum erwidern, sie könnten nicht anders verfahren als nach den gültigen Gesetzen.

Was dabei niemand auszusprechen wagt, ist die Angst, als Rassist gebrandmarkt zu werden. Eine Polemik, die immer öfter geäußert wird, lautet, der Staat vernachlässige seine Aufsichtspflicht. Daraus ergeben sich Debatten um eine den Kommunen unterstellte Polizei sowie um die Autorität der Bürgermeister. Die Bürgermeister einiger mittelgroßer Städte wie Orléans, Etampes und Lucé haben schon eigenmächtig die Entscheidung getroffen, nach amerikanischem Vorbild eine nächtliche Ausgangssperre für Minderjährige einzuführen. In Cannes, Nizza und Straßburg hat man diese Idee aufgegriffen, aber die Linke sträubt sich dagegen.

Auch Staatspräsident Jacques Chirac hat sich wählerwirksam des Themas „Innere Sicherheit“ angenomen. Die politische Debatte dreht sich um fehlende Normen und Bezugspunkte, um das Versagen der elterlichen Kontrolle. In Wirklichkeit steht viel mehr auf dem Spiel: Die steigende Gewalttätigkeit kommt einer Bankrotterklärung des „republikanischen Modells“ gleich, an das sich Rechte wie Linke klammern. Sie ist Ausdruck einer regelrechten „Verwilderung“ - des Scheiterns nicht nur der französischen Integrationspolitik, sondern mehr noch eines Gesellschaftsverständnisses, das sich auf die Achtung der Gesetze verläßt. Schon Tacitus wußte: Ohne Anstand gibt es auch kein Recht.


 
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