© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/01 17. August 2001

 
Gefangene der NS-Vergangenheit
Österreich: Der Philosoph Rudolf Burger polemisiert gegen die „Gedenkpolitik“
Frank Philip

Seit mehreren Wochen schon schwelt in Österreich eine Diskussion über das Gedenken der NS-Zeit, die auf den Rängen eines akademischen Forums entfacht wurde und alsbald ihren Weg bis in die Massenblätter gefunden hat. Es ist eine Art Neuauflage der deutschenWalser-Debatte, tiefgründiger noch und weitaus komplizierter. Auslöser ist Rudolf Burger, Ordinarius für Philosophie an der Universität für Angewandte Kunst. Burger gilt als einer der profiliertesten Intellektuellen des Landes und ist international bekannt für seine Lust an der Provokation des juste milieu. Wegen der Teilnahme an den regelmäßigen „Philosophischen Mittagessen” von Bundeskanzler Schüssel fiel Burger bei der linken Wiener Kulturszene, der er ehemals nahestand, in Ungnade und wird, obwohl er sich häufig in stark abfälliger Weise über Haiders Freiheitliche geäußert hat, nunmehr als „schwarz-blauer Wendephilosoph“ geschnitten.

Die „Bombe“, wie Burger selbst sagt, zündete, als er in der Sommerausgabe der renommierten Kulturzeitschrift Europäische Rundschau seinen Essay „Die Irrtümer der Gedenkpolitik“ mit dem Untertitel „Ein Plädoyer für das Vergessen“ veröffentlichte. Darin unterzieht Burger die Thesen der „Kollektivschuld“ und der „Verdrängung der Nazizeit“ einer vernichtenden Kritik und leugnet, daß ständiges Erinnern und Aufarbeiten dazu geeignet seien, eine Wiederholung historischer Verbrechen zu verhindern. Beginnend mit einem verfremdeten Text von Foucault möchte Burger die Freudsche Theorie von Repression und Verdrängen, heute in bezug auf die NS-Zeit vulgarisiert, widerlegen. Er sieht im Gegenteil eine Trivialisierung und Kommerzialisierung des Andenkens an die Judenvernichtung: „Die Nazizeit boomt, ausgehend von den USA, weltweit, sie ist ein Riesengeschäft geworden, politisch, moralisch und finanziell“, schreibt er unter Berufung auf das Skandalbuch „Die Holocaust-Industrie“ von Norman Finkelstein.

Die Rede vom kollektiven „Verdrängen der Nazizeit“ sei eine „gedankenlose Analogie- und schlampige Metaphernbildung“ zu Freudschen Thesen. Als die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg die Masse der Deutschen mit den NS-Verbrechen konfrontierten und sahen, daß diese nicht mit Zerknirschung, sondern mit Abwehr auf die Schuldzuweisung reagierten, hätten die Alliierten als „Therapie“ die Vergangenheitsbewältigung ersonnen, um die Deutschen zur Anerkennung der Schuld zu bringen. Da Völker aber nach Burgers Meinung kein Gewissen haben, gibt es seiner Ansicht nach auch kein kollektives Über-Ich und kein kollektives Unbewußtes. Eine Neurose, wie sie sich nach der klassischen Psychoanalyse als Folge eines verdrängten Traumas bildet, gebe es bei Kollektiven nicht. Daher sei das ständige „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ im Sinne der Vergangenheitsbewältigung nicht sinnvoll.

Für Burger hat das von C. G. Jung ersonnene „nationaltherapeutische Ideologem ’Vergangenheitsbewältigung‘ also seinen Ursprung in genau jener völkischen Denkweise, die mit dem Nazismus zur Kritik steht“. Überlagert würden die therapeutischen Aspekte der Vergangenheitsbewältigung zudem durch pädagogische Argumente: „Allein die ständige Präsenz von Auschwitz im Gedenken sei ein Schutz vor dessen realer Wiederkehr, nur wer sich unablässig mit dem vergangenen Schrecken konfrontiert, vermag in der Gegenwart verantwortlich zu handeln.“ Dieses Bemühen um eine verallgemeinernde Mahnung werde jedoch unterlaufen durch die gleichzeitig erhobene Behauptung einer „Unvergleichlichkeit“ der nationalsozialistischen Verbrechen.

Burger bestreitet, daß die Erinnerung an das Böse vor dessen Wiederholung schütze. Er wagt einen Tabubruch: Nicht das Erinnern, sondern das Vergessen sei das Gebot der Stunde. Da die Maxime „Niemals vergessen!“ das Unheil fortwälze, sei es keine ehrliche Mahnung, „sondern eine militante Kollektivverpflichtung, unter günstigeren Bedingungen wieder zu mobilisieren“. Die Geister blieben lebendig, so Burger. Zum Schluß seiner Überlegungen schreibt er: „Real ist die Nazizeit so versunken wie Karthago, das mumifizierte Gedenken verzaubert sie zum Mythos. So erbt sich das Unheil fort, als Kleingeld der Politik und als schamloses Geschäft.“ Besonders an dem fragwürdigen Vergleich mit der antiken Stadt Karthago nahmen die Kritiker Anstoß. Es ist tatsächlich zweifelhaft, ob „Trauer als echtes Gefühl”, wie Burger behauptet, “nach einem halben Jahrhundert nicht mehr möglich“ ist.

Wenige Tage nach dem Erscheinen der Europäischen Rundschau veröffentlichte die linksliberale Wiener Tageszeitung Standard einen seitenlangen Auszug aus Burgers Essay. Die Korrespondenten bundesdeutscher Zeitungen konnten ihren aus den Tagen der Walser-Debatte wohlbekannten Beißreflex bezwingen und ignorierten Burgers Polemik. In der Alpenrepublik dagegen schlugen die Wellen anfangs turmhoch. Alle großen Medien brachten in den folgenden Wochen Erwiderungen, überwiegend ablehnende bis feindliche. Burger wurde unterstellt, den Grundkonsens, ein Menschheitsverbrechen wie Auschwitz dürfe nie wieder vorkommen, außer Kraft setzen zu wollen.

Einen zweifelhaften Höhepunkt der Kontroverse stellte dann die Titelgeschichte des Magazins Format „Zeit für einen Schluß-Strich?“ dar. In der Unterzeile wird dem Philosophen das Zitat unterstellt, Hitler sei „ein Pornostar“ geworden.

Vor wenigen Tagen kam die Herbstausgabe der Europäischen Rundschau heraus, welche kritische Repliken zu Burger enthält. In einer Stellungnahme im Standard beklagte Paul Lendvai, der Herausgeber der seit 1973 erscheinenden Zeitschrift, die Angriffe gegen Burger glichen immer mehr einer Hexenjagd. Nicht allein der „Applaus von der falschen Seite“ - damit war in den letzten Tagen häufig auf Andreas Mölzer angespielt worden -, sondern auch die „geblendeten Anzeiger und Jäger der ’politischen Korrektheit‘“ seien gefährlich, so Lendvai. Als einer der wenigen österreichischen Intellektuellen stimmte der Historiker Lothar Höbelt in einem Gastkommentar für die Tageszeitung Presse den Grundthesen Burgers zu. Dessen Forderung nach „Vergessen” meine nicht „das Auslöschen der Erinnerung“, sondern den „Verzicht auf tagespolitische Instrumentalisierung“. Man dürfe Hitler nicht als „Allerweltskrampus und den Holocaust als Fundraising-Gag“ banalisieren. Allmählich sei es Zeit für eine Historisierung des Dritten Reiches, wie sie schon Martin Broszat angemahnt habe, so Höbelt.

Im Standard wagte Konrad Paul Liessmann eine Verteidigung von Burgers Thesen. In bemerkenswert deutlichen Worten schreibt Liessmann, eine Kulturindustrie habe sich des Gedenkens an die NS-Zeit bemächtigt, darin die „unmittelbare Faszination des Schrecklichsten“ gefunden. Dies habe „nicht zuletzt zum Erfolg des ’Holocaust‘ in der Kulturindustrie beigetragen“.

Wörtlich schreibt Liessmann: „Die Versuche, die Judenvernichtung der Deutschen aus dem historischen Kontinuum herauszunehmen und zu einem negativen Absolutum zu erklären, konnten deshalb auch dazu führen, eine säkulare Religion, eine ’Zivilreligion‘ zu begründen, die als neues Mythologem auch all das produziert, was Erinnerung letztlich nicht schärft, sondern verblassen läßt: Gedenk- und Pilgerstätten, Rituale und Lippenbekenntnisse, Ästhetisierung, Pathetisierung und Hohepriester, und auch, zum Gaudium der Medien, Heuchler, Ketzer, Häretiker und Leugner.“


 
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