© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
Der Prozeß gegen Gott
Schöne Neue Welt: Erwin Chargaff, Biochemiker und Schriftsteller, kritisiert die Gen-Technologie
Heimo Schwilk

Daß sich die weltweit größte Propagandaschau zur Gen-Technologie ausgerechnet in Nachbarschaft zu Erwin Chargaff niedergelassen hat, in New Yorks imposantem "American Museum of Natural History" am Central Park West, ist ein seltsamer Zufall. Der 95jährige Chargaff gilt nämlich als die Kassandra der angewandten Naturwissenschaft, als streitbarer Kritiker – manche sagen Apokalyptiker – des modernen Machbarkeitswahns. Die Ausstellung "The Genomic Revolution" preist in multimedialer Inszenierung an, wovor Chargaff seit Jahrzehnten nicht müde wird zu warnen: Genom-Entschlüsselung, Embryonenforschung, Klonierungstherapien, Präimplantationsdiagnostik. Um die flimmernden Monitore, Schautafeln und DNA-Skulpturen drängeln sich Schulklassen, denen der Rundgang durchs Disneyworld des Neuen Menschen offenbar Spaß macht.

Ein paar Hochhäuser weiter, im 13. Stock eines Backsteinbaus über dem Central Park, hat sich der berühmte Molekularbiologe und erfolgreiche Schriftsteller – der gebürtige Österreicher veröffentlichte in 40 Jahren rund 30 Bücher – hinter Bücherwänden und seinem fröhlichen Sarkasmus verschanzt. Längst ist Erwin Chargaff eine Legende, weniger als Fast-Nobelpreisträger, dem Watson und Crick ihre Erkenntnisse über die Doppelhelix der DNS "gestohlen" hatten, wie er einmal in einem Interview anmerkte, sondern als wortgewaltiger Mahner vor einer dehumanisierten, schönen neuen Welt.

Der Besuch in seinem New Yorker Refugium ist lange angekündigt und wegen der prekären Gesundheit des hochbetagten Gelehrten durch zahllose E-Mails bestätigt, verzögert, verschoben und schließlich der Realisierung näher gebracht worden. "Rufen Sie mich an, ob ich noch lebe", meinte er jedesmal, wenn ich mit ihm telefonierte. Jetzt, so kurz vor seinem 96. Geburtstag am 11. August, betrete ich das Foyer des Gebäudes 350 Central Park West, das in den zwanziger Jahren in dezenter Art-deco-Eleganz erbaut wurde. Nachdem mich der "Bellmann" nach Nennen von Chargaffs Namen anstandslos passieren ließ, öffnet eine Haushälterin die beiden Flügel der Wohnungstür. Seit dem Tod seiner Frau Vera hält sie den Kontakt zur Welt aufrecht, kommt regelmäßig zum Kochen in das Vierzimmerappartement, das eigentlich eine wohlbestückte Bibliothek ist. 10.000 Bücher stehen ordentlich aufgereiht in den Regalen. Er sei kein Bibliophiler, der Erstausgaben sammle, erzählt Chargaff, die Bücher seien allein zum Lesen da. Nach seinem Tod soll die Wiener Nationalbibliothek die Sammlung erben. Als wir im Gespräch das Thema "Mystik" streifen, greift er mit sicherem Griff ins Regal, um einen Band mit Jakob Böhmes Reflexionen über die Seele aufzuschlagen.

Genforscher nehmen Gesundheit als Vorwand

Der schmale Herr mit dem eisgrauen, dichten Haar und den wasserblauen, immer ein wenig spöttisch blickenden Augen sitzt mit dem Rücken zum Fenster, durch das die grelle Sonne eines Frühsommermorgens in den etwas spartanisch wirkenden Raum dringt. Die Hände auf den Stock gestützt, spricht er ein weiches, singendes Wienerisch, entschuldigt sich, dem Gast nicht entgegengehen zu können: der Rücken mache nicht mehr mit.

Damit sind wir mitten im Thema: Die Gesundheit sei der Vorwand, warnt Chargaff, mit dem die Genforscher ihre gefährlichen Grenzüberschreitungen rechtfertigten: "Wenn die Wissenschaft verspricht, daß sie den Schmerz lindert oder gar ausrottet, dann merken die Menschen auf. Die Gentechnokraten wissen, daß sie damit leicht verführen können, denn für Gesundheit und ewiges Leben geht der Mensch jeden Teufelspakt ein." Dabei sei doch beim "sogenannten Fortschritt" gar nicht so viel herausgekommen, Krebs sei genauso gefährlich wie vor hundert Jahren, und Aids wachse sich zur Geißel der Menschheit aus. "Die Genom-Entschlüsselung wird zu zahlreichen unangenehmen Wirkungen führen, Leute werden ihren Gen-Paß fälschen, um nicht ihren Job zu verlieren. Oder man wird feststellen, daß am Nucleotid 235 etwas falsch ist. Dann wird die Chase Manhattan Bank sagen: Dieser Mann kann bei uns nicht Kassierer sein."

Solche Übertreibungen haben Chargaff vielen seiner Forscherkollegen suspekt gemacht, sie argwöhnen, der verpaßte Nobelpreis habe den in die Literatur und Philosophie entsprungenen Biochemiker verbittert. In Wirklichkeit hatte Chargaff früh schon seinen polaren Neigungen nachgegeben und nach dem Ersten Weltkrieg in Wien Chemie und Literaturwissenschaft studiert. Der Dreizehnjährige, der alles las, was ihm in die Hände fiel, erkannte in Karl Kraus, dem genialen Satiriker und scharfzüngigen Polemiker, einen Geistesverwandten, dem er bis heute nacheifert. Tatsächlich könnten viele seiner Aphorismen auch vom Herausgeber der Fackel geschrieben sein. Ähnlich wie Kraus mit seiner ätzenden Gesellschaftskritik will Chargaff als Wissenschaftskritiker seine Leser aufrütteln, zum Widerspruch reizen, zum Widerstand anleiten.

Die Menschheit steuert auf eine Katastrophe zu

Für den Autor des Buches "Abscheu vor der Weltgeschichte" steuert die Menschheit auf die selbstgemachte Katastrophe zu. Chargaffs Karriere als Schriftsteller setzte zu einem Zeitpunkt ein, als die Forschung immer unverhüllter dem Zweckmäßigkeitsgrundsatz – "Was gemacht werden kann, muß auch gemacht werden" – zu huldigen begann, in den sechziger Jahren. Erwin Chargaff erkannte rasch, daß diese Art von Wissenschaft mit seinem eigenen Begriff von Natur nichts mehr zu tun hatte. Aus einem Saulus wurde ein Paulus.

Schon der Atombombenabwurf auf Hiroshima im Sommer 1945 hatte einen Schock für den Biochemiker bedeutet, der damals an der New Yorker Columbia University forschte. Zwei "verhängnisvolle" wissenschaftliche Entdeckungen hätten sein Leben bestimmt, schreibt Chargaff rückblickend in seiner Autobiographie "Das Feuer des Heraklit": die Spaltung des Atoms sowie die Aufklärung der Chemie der Vererbung. In beiden Fällen habe der Mensch einen Kern "mißhandelt", den Atomkern einerseits, den Zellkern andererseits. Damit habe die Wissenschaft eine Schranke überschritten, die sie hätte scheuen sollen.

Den Einwand, Gott habe den Menschen doch zur Freiheit verurteilt und damit seine grenzenlose Neugier erst entfesselt, will mein Gegenüber nicht gelten lassen: Leise, aber eindringlich formuliert Chargaff, der von sich sagt, keiner Kirche und keinem Glauben anzugehören, eine Moralpredigt wider den Machbarkeitswahn der Wissenschaft: "Gott hatte in Satan immer einen Gegenspieler – heute nimmt der Mensch dessen Platz ein. Für fromme Christen oder Hindus sind solche Wissenschaftler eine Teufelsbrut, denn sie sind aufgestanden gegen den Schöpfer der Welt. Sogar die Freidenker des 19. Jahrhunderts wären erstaunt gewesen über das, was jetzt vor sich geht. Den Feldzug der Wissenschaft gegen die Religion konnten auch die Philosophen nicht vorhersehen. Ich habe immer gedacht, daß zur Naturforschung auch eine gewisse Ehrfurcht vor dem Leben gehört. Die Molekularbiologen und Gentechnologen benehmen sich statt dessen wie Staatsanwälte, die einen Prozeß gegen Gott führen. Sie häufen Material auf, um zu zeigen, daß die Schöpfung nichts wert ist. Man kann nur mit Verachtung auf diese Leute schauen, es sind beschränkte Menschen, Klempner, die das Wasser erklären wollen."

Für das Experimentieren am Lebendigen – ob an Ratten, "Harvardmäusen", Schafen oder menschlichen Embryonen – hat Chargaff das Verb "mengeln" geprägt, in Anspielung auf den NS-Arzt Josef Mengele, der medizinische Versuche an Menschen anstellte. Als Biochemiker beschränkte Chargaff sich darauf, die Chemie der Vererbung, die Wirksamkeit der Nukleinsäuren zu erforschen, ohne damit irreversible Entwicklungen anzustoßen. Während Forscher wie Francis H. Crick und James D. Watson, die späteren Nobelpreisträger, die Doppelhelix als räumliches Modell darstellten, um damit ein experimentelles Hacken, Schneiden und Kleben am DNS-Band auszulösen, betrachtete der Entdecker der "Chargaff-Regeln" die Erforschung der Natur als Entzifferung eines genialen Textes, den der Schöpfer geschrieben hat. Dabei beruft Chargaff sich gerne auf Newton, der als "frommer Christ" die Wunder Gottes habe transparenter machen wollen. Aber, insistiere ich, behaupten nicht auch die Entschlüßler des Genoms, die US-Forscher Craig Venter und Francis Collins, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse ständen in Einklang mit dem christlichen Welt- und Menschenbild? Für Erwin Chargaff sind dies PR-Tricks von Leuten, die die Vermarktung ihrer Forschungsergebnisse geschickt den gesellschaftlichen Grundüberzeugungen anzupassen suchen. "Venter und Collins sind Amateurphilosophen. Was sie über die religiösen Motive ihres Forschens sagen, ist wenig glaubwürdig. Es gibt Wissenschaftler, die froh sind, daß die Naturwissenschaft die Nereiden und die Baumgöttinnen entzaubert hat. Ich bin sehr unbeeindruckt vom geistigen Niveau dieser Menschen."

Religionen drohen zu verschwinden

Die Vereinigten Staaten, das Land, in dem der neue Präsident George W. Bush angetreten ist, eine konservativ-christliche Revolution durchzusetzen, ist für Chargaff in Wirklichkeit ein Hort des Agnostizismus, des schrankenlosen Materialismus: "Die Menschen sind ausgehöhlt, ganz Amerika ist eine riesenhafte Madame Tussaud. Ein unheimliches Land. Aber bald wird Europa auch so sein. Je mehr sich die Welt vereinheitlicht, um so fragmentarischer wird sie. Planetarisierung bedeutet Uniformisierung. Die äußere Form wird vereinheitlicht im Sinne der amerikanischen Globalkultur. Die Sprache der Europäischen Union wird ein schlechtes Englisch werden. Innerlich vereinsamen die Menschen, weil sie ihre Identität verloren haben. Ideal wäre es, wenn die Menschen in Baku ein schlechtes Englisch und ein gutes Aserbeidschanisch sprächen. Ich lebe seit über 70 Jahren hier und habe mich noch immer nicht an das Amerikanische gewöhnt, geschweige denn assimiliert. Ich lebe aus der europäischen Kultur. Die Sprache ist meine einzige Heimat."

Der Verlust der Metaphysik bedeutet für Erwin Chargaff den Verlust des Menschlichen schlechthin: "Wir leben in einer Zeit, in der die Religionen zu verschwinden drohen. Allenfalls der Islam scheint sich zu behaupten. Es gibt inbrünstige Islamisten, die sich mit Selbstmordbomben in die Luft sprengen – ist das nicht phantastisch? Ich glaube nicht, daß man den heutigen Katholizismus mit der Epoche vergleichen kann, in der Giordano Bruno von der Inquisition zum Tode verurteilt wurde. Luther hat mit seinem Versuch der Individualisierung des Glaubens dem Katholizismus die Zähne ausgebrochen. Die Religionen sind in der Folge erschlafft, was sicher auch mit dem Fortschritt der Vergnügungskultur zu tun hat."

"Das Böse ist banal und farblos geworden"

Chargaff erklärt weiter: "Die Frage ist: Was hat die Aushöhlung des Einzelnen hervorgerufen? Wieso ist Amerika plötzlich so wichtig geworden? Das ist ja kein sehr tief denkendes Land. Es hat keine bedeutenden Philosophen oder Theologen wie Martin Buber oder Karl Barth hervorgebracht. Vielleicht gibt es wirkliche Fromme nur noch in Irland oder Polen. Tief denkende und religiös fühlende Menschen werden offenbar segregiert, landen heutzutage in den Irrenhäusern. Sogar das Böse hat sich neutralisiert, ist banal und farblos geworden. Denken Sie nur an den Massenmörder McVeigh mit seinem leeren Blick, der ins Nichts geht."

Auch die großen Epochen von Kultur und Gelehrsamkeit, so Chargaff weiter, seien mit der Heraufkunft der Massendemokratie untergegangen: "Ich habe 1945 einmal eine Liste von bedeutenden Persönlichkeiten aufgestellt, die im Umkreis meines Lebens etwas geschaffen haben, ob nun Komponisten, Maler oder Schriftsteller. Aufgrund meines hohen Alters reicht meine Lebensspanne weit zurück: Ich war zwei Jahre alt, als Tolstoi gestorben ist. Auf meiner Liste standen unter anderem Rilke und Yeats, Celan und Beckett, Schostakowitsch und Einstein. Wo gibt es heute Künstler vom Rang eines van Gogh, Renoir oder Monet? Wer könnte heute eine gleichrangige Aufzählung wie ich damals machen? Wo sind vergleichbare Größen zu finden? Natürlich gibt es einen Jackson Pollock, der Farbe auf die nasse Leinwand spritzt – vielleicht ist ja auch der Zufall ein Künstler. Tatsächlich ist das alles ein großes Nichts. Es bedeutet die Aushöhlung des Menschen, die Preisgabe des Menschlichen."

Als ich Chargaff frage, was er von Ernst Jünger halte, blickt er mich überrascht an. "Sie wissen", sagt er, "daß ich an seinem 90. Geburtstag im Stuttgarter Schloß mit dabei war? Ich lese ihn seit Jahrzehnten, sein Werk besteht fast nur aus Fragmenten, alles ist Fragment, sogar die Erzählungen." Er schätze vor allem "Auf den Mamorklippen" und die Tagebücher. "Gegenüber Jünger ist Elias Canetti, der den Literaturnobelpreis bekommenn hat, eher unbedeutend: ein Mikro-Jünger." Von Canettei, mit dem er auf der Schulbank gesessen habe, schätze er nur "Die Fackel im Ohr" und "Die Stimmen von Marrakesch". Er sei überschätzt worden.

Dieser bewunderungswürdig konsequente Mann, der seine zahlreichen wissenschaftlichen Auszeichnungen niemals vermarktet hat, um an der Bio-Industrie mitzuverdienen, hat eine klare Vorstellung, wie es zur Fehlentwicklung auf dem Feld der Genbiologie kommen konnte: "Die Wende zum Schlechteren setzte Anfang des Jahrhunderts ein. Darwin war schon ein großer Umstürzer, den tiefsten Einschnitt aber bedeutete das Manhattan-Projekt, das nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ins Leben gerufen wurde, um den Amerikanern die Atombombe zu verschaffen. Es war der Anfang einer ganz neuen Forschung, die auf die Masse der Forscher setzte. Eine wissenschaftliche Arbeit zu meiner Zeit hatte höchstens drei Autoren. Jetzt nehmen manche Autorenlisten eine ganze Seite der Zeitschrift Science ein." Otto Hahn habe noch mit einer einzigen Mitarbeiterin die Atomenergie entdeckt, erinnert sich Chargaff. "Das Manhattan-Projekt war das erste Beispiel dafür, daß man Wissenschaft auch auf industriellem Niveau betreiben kann." Erst diese Art von Kollektiv-Forschung habe moralische Katastrophen wie Hiroshima möglich gemacht: "Ich sah damals alles bedroht, was Menschlichkeit bedeutete; möglich gemacht durch den Beruf, dem ich angehörte. Konnte sich die Wissenschaft nach Hiroshima noch auf ihre Unschuld berufen?"

Damals, so Chargaff, sei ihm der fatale Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Mord endgültig klar geworden. "Das Nazi-Experiment in Eugenik – die ’Ausrottung rassisch minderwertiger Elemente‘ – war eine Folge derselben Art von mechanistischer Denkweise. Die Forschung in Amerika ist heute Teil der kapitalistischen Marktwirtschaft geworden. Die Universität stellt nur noch die Gebäude zur Verfügung, das Geld muß der Wissenschaftler sich selbst beschaffen. Deshalb stehen die Forscher unter enormem Konkurrenzdruck. Manche lassen sich ihre Doktorarbeit patentieren, bevor sie geschrieben ist." Im Grunde, fordert Chargaff, sollten alle Wissenschaftler anonym forschen. Dann entfielen viele Grenzüberschreitungen aus Eitelkeit oder Profitsucht.

Kritik an blasphemischen Grenzüberschreitungen

"Geld ist das Pneuma des Teufels", lautete einer von Chargaffs bekanntesten Aphorismen. Schaut man auf Deutschland, wo Bundeskanzler Schröder die Freigabe der Embryonenforschung mit der Sicherung von Arbeitsplätzen begründet und Koryphäen wie Hubert Markl oder Ernst-Ludwig Winnacker sich bedenkenlos über ethische Bedenken hinwegsetzen, muß sich der emeritierte Biochemiker der Columbia-Universität bestätigt fühlen. Er sei, bekennt Chargaff, in völliger Übereinstimmung mit der Position von Johannes Rau. "Seine Rede zur Genforschung hat mich sehr beeindruckt. Ich bin wie er gegen Forschung an Embryonen."

Der eugenische Charakter der Präimplantationsdiagnostik (PID) ist für den Nestor der Biogenetik nicht zu bestreiten, das Selektieren von Embryonen sei ein Skandal, der unter dem Deckmantel der "Gesundheit" die fatale historische Parallele vergessen lassen wolle. Erwin Chargaff, der einer jüdischen Familie entstammt und 1935 von Paris aus in die USA emigrierte (seine Mutter wurde 1943 von Wien nach Polen deportiert und kam dort um), will es sich nicht verbieten lassen, daran zu erinnern, auf welchen Spuren die sogenannten Lebenswissenschaften heute wandeln. "Was geschieht mit einem Menschen, in dessen Genom eingegriffen wurde und der sich in einer für die Gesellschaft ungünstigen oder abweichenden Art entwickelt? Ein Auto würde man ins Werk zurückrufen – aber wohin stecken wir den Homunkulus?"

Auch der Versuch, in der DNA ein "Todes-Gen" zu lokalisieren, um durch Manipulation die Lebensdauer des Menschen zu verlängern, bedeutet für Chargaff eine blasphemische Grenzüberschreitung – die Anmaßung, mit einem "achten Schöpfungstag" die gottgeschaffene Welt zu korrigieren. Für ihn als fast Hundertjährigen sei der Tod kein Problem, sagt er lächelnd. "Das Tröstliche am Tod ist, daß er der größte Korrektor aller Idiotien ist."  

 

Heimo Schwilk: Jahrgang 1952, hat Philosophie, Germanistik und Geschichte in Tübingen studiert. Heute lebt er als Publizist und Autor in Berlin. Den Text haben wir mit seiner freundlichen Genehmigung der zweiwöchentlich erscheinenden Zeitschrift für Politik und Kultur "Gegengift" (Raiffeisenstr. 24, 85276 Pfaffenhofen) entnommen.


 
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