© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
Symbolische Rückkehr
Hundert Jahre nach dem Einzug Gerhart Hauptmanns ins Haus Wiesenstein eröffnet dort eine Ausstellung
Doris Neujahr

Am 10. August 1901 bezog Gerhart Hauptmann das Haus "Wiesenstein" im schlesischen Agnetendorf am Fuße des Riesengebirges. Hier starb er am 6. Juni 1946, fast 84jährig, unter dramatischen Umständen. Seine Leiche konnte erst Wochen später in einem verlöteten Zinksarg abtransportiert werden. Sie wurde in Kloster auf Hiddensee, seinem Sommerdomizil, beigesetzt. Genau hundert Jahre nach seinem Einzug wird am 11. August 2001 im Haus eine Fotoausstellung eröffnet, mit der Hauptmann symbolisch auf den "Wiesenstein" zurückkehrt. In einigen Jahren soll eine Dauerausstellung folgen. Dieses deutsch-polnische Projekt ist mehr als eine Dichterwürdigung. Es bedeutet eine symbolische Wiedergutmachung, die Rückkehr zu historischen Tatsachen und regionalen Traditionen. Es markiert das neue Verhältnis zwischen Deutschen und Polen, namentlich mit Blick auf die alten Ostprovinzen.

Hauptmann hatte das weltentlegene Agnetendorf mit Bedacht gewählt. Für den gebürtigen Schlesier, der von seinen Werken häufig Dialektfassungen erstellte, blieb die Heimatprovinz lebenslang der Nährboden seiner künstlerischen Kreativität. Das Haus war Arbeitsenklave und persönliches Refugium, sollte aber auch den gesellschaftlichen Aufstieg und seine Stellung als öffentliche Person demonstrieren. Seine Position in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende war so dominierend, daß die neue Wohnstätte zugleich ein Stück deutschen Kulturlebens verkörperte. So war es von Hauptmann gedacht, und so sah es die Öffentlichkeit. Außer Freunden und Verehrern pilgerten auch Pressevertreter und Fotografen hierher.

Hauptmann beauftragte den – mittelmäßigen – Architekten Hans Grisebach mit dem Projekt, der mit Wohn- und Geschäftsbauten im Neo-Renaissance-Stil bekannt geworden war. Im Mai 1900 wurde der Grundstein gelegt. Grisebachs fehlendes Format erlaubte es Hauptmann, in die Planungen und Entwürfe aktiv einzugreifen. "Immerhin ist es bereits ein Stück von mir, und meine gestaltende Phantasie ist unlöslich damit verbunden", schrieb er im autobiographischen "Buch der Leidenschaft" über den "Wiesenstein". Und weiter: "Er steht nach Bestimmung und Lage außerhalb des Bürgertums. Er hat einen festen, gedrungenen Turm, der die Dämonen schrecken und einer Welt von Feinden Trotz bieten soll."

Die eklektische Architektur verriet viel von der Künstlerindividualität, den Interessen, Vorbildern, Wünschen und Unzulänglichkeiten seines Besitzers. Das Erdgeschoß wurde von einer großen, über zwei Stockwerke reichenden Halle mit umlaufender Galerie beherrscht. Weiterhin enthielt es ein Eßzimmer, ein Kaminzimmer und eine geräumige Bibliothek für über 10.000 Bände. Im runden, Hölderlin-Assoziationen weckenden Turm befand sich das große Arbeitszimmer. Ein weiteres Arbeitszimmer, wohin Hauptmann sich zur Lektüre und zur Meditation zurückzog, lag im zweiten Turmgeschoß.

Bei Besuchern hinterließ das burgartige Haus mit seinen Säulen, den Renaissanceschränken, den dunklen Holztäfelungen und Bronzeleuchtern einen musealen und sakralen Eindruck. 1922 wurde die Halle mit Figuren aus Hauptmanns Dichtungen ausgemalt. Längst war der Hausherr zum Dichterfürsten avanciert und der "Wiesenstein" zu "einer kleinen Residenz" geworden, in der sich ein eigener "Hofstaat" etablierte (W. Leppmann).

Wenn Hauptmann auch betonte, mit dem Haus "außerhalb des Bürgertums" zu stehen, so teilte er doch dessen Empfindungen und Geschmacksverirrungen! "Wer jetzt kein Haus baut, baut sich keines mehr", hatte Rilke vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben und den Wunsch nach Sicherheit ins Reich der Illusionen verwiesen. Hauptmann registrierte in seinen Büchern die Erschütterungen der Zeit nicht minder seismographisch. Als Bauherr suchte er ihnen, wie ein beliebiger Bourgeois, mit einer epigonalen, an Adelsschlössern orientierten Formensprache zu begegnen. Die Sicherheit, die sie versprach, erwies sich als überaus trügerisch.

Am Ende taugte der "Wiesenstein" nicht einmal mehr zum Elfenbeinturm. Agnetendorf war einer der letzten Winkel, in die der Krieg drang, dann brach auch hier mit voller Wucht die Tragödie los. Das Archiv des Hauses war bereits Anfang 1945 nach Bayern und dann in die Schweiz gebracht worden. Schlesien gehörte nun zum polnischen Machtbereich. Zwar erhielt der "Wiesenstein" einen Schutzbrief, und russische Militärs bewahrten Hauptmann vor den schlimmsten Übergriffen. Seine Lage wurde dennoch unhaltbar. Er stimmte seiner Übersiedlung nach Berlin zu, die in aller Rücksicht und Ehrerbietung stattfinden sollte. Doch Hauptmann, seit der miterlebten Zerstörung von Dresden ein gebrochener Mann, war innerlich entschlossen, auf dem "Wiesenstein" zu sterben. Am 6. Juni 1946 erlag er einer Lungenentzündung. "Bin ich noch in meinem Haus?" lauteten seine letzten Worte. Sein Adlatus Gerhart Pohl berichtete, daß nach Bekanntwerden seines Ablebens polnische Milizionäre vor dem Haus ein Freudenkonzert anstimmten.

Nach wochenlangem Gezerre wurden der Sarg und das Hausinventar in einem Sonderzug nach Berlin gebracht. Teile des Mobiliars bildeten später den Grundstock für die Hauptmann-Gedenkstätte in Erkner bei Berlin, wo sie – mittlerweile als Dauerleihgabe der Stiftung Preußischer Kulturbesitz – in einem Haus aufgestellt sind, das Hauptmann um 1890 bewohnt hatte.

Im "Wiesenstein" war bis 1998 ein Kindererholungsheim untergebracht. 1989 hatten die Regierungschefs Kohl und Masowiecki vereinbart, durch die Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit hier eine Begegnungsstätte einzurichten. Die Deckenmalereien wurden inzwischen restauriert. Zum beschlossenen Konzept gehören vor allem zweisprachige Dauer- und Wechselausstellungen. Schautafeln mit Fotos und Selbstaussagen, Buchexemplare von Erstausgaben und Übersetzungen, eine Kopie des Gästebuches, Exponate aus Hauptmanns umfangreichen Kunstsammlungen, Filmaufnahmen und Tonaufnahmen des Dichters sollen den Besuchern die Bedeutung des Hauses und seines Besitzers vermitteln. Die Vorgänge von 1945/46 werden bei dieser Gelegenheit ausdrücklich thematisiert. Die eigentliche Begegnungsstätte ist für die nächsten Jahre im Obergeschoß geplant. Hier könnten auch einige Zimmer als Unterkünfte für Stipendiaten hergerichtet werden.

Gern würden die Organisatoren das Arbeitszimmer und die Bibliothek in den ursprünglichen Zustand versetzen. Das würde bedeuten, Hauptmanns Möbel von Erkner wieder auf den "Wiesenstein" zu überführen. Von dieser Alternative will die Museumsleitung in Erkner aber begreiflicherweise nichts wissen. "Dann können wir dichtmachen", heißt es.

Ohnehin muß abgewartet werden, ob der "Wiesenstein" als öffentlicher Treffpunkt, Tagungsort und Arbeitsstätte vom polnischen Umfeld überhaupt angenommen wird. Zwar begehren immer wieder Neugierige Einlaß in das leerstehende Gebäude, doch es handelt sich fast ausschließlich um deutsche Besucher. Für sie aber liegt Agnetendorf noch immer in weiter Ferne. Vor dem Zweiten Weltkrieg brauchte man von Berlin mit dem Zug nur drei Stunden, heute benötigt man die doppelte Zeit. Bleibt zu hoffen, daß die Rückkehr des größten Dichters Schlesiens in seine Heimat nicht nur Vetriebene, Literaturliebhaber und idealistische Intellektuelle beflügelt, sondern auch die Verkehrsplaner in Deutschland und Polen.

 

Gerhart Hauptmann (l.) an der Riviera (1909): Eva Chamberlain, geb. Wagner; Hauptmanns zweite Gattin Margarete, geb. Marschalk; Frau Küchler und Siegfried Wagner (v.l.n.r.)

Haus Wiesenstein in Agnetendorf: "Die Dämonen schrecken"

Literatur: Die Tagebücher Gerhart Hauptmanns sind im Propyläen/Ullstein Verlag erschienen, das in zehn Bänden vorliegende erzählerische Werk ist als Ullstein Taschenbuch erhältlich.


 
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