© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
Weniger weiß und europäisch
Weltbevölkerung: Eine neue Studie aus Österreich revidiert die alten Zahlen / Menschheit vermehrt sich langsamer
Alexander Barti

Mit den Angaben zur Weltbevölkerung verhält es sich fast so wie mit den Wirtschaftsdaten: immer neue Institute veröffentlichen immer neues Zahlenmaterial. Und ebenso wie bei den Beobachtern der Wirtschaft kommen auch die Menschenzähler mitunter zu uneinheitlichen Ergebnissen. Allerdings haben es die Demographen einfacher, denn daß die Weltbevölkerung stetig wächst, zieht niemand in Zweifel. Mit der Wirtschaft verhält es sich bekanntlich anders.

Das Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien veröffentlichte unlängst Zahlen, die zu anderen Ergebnissen kommen als die einschlägigen Institute der Uno oder der EU. Wolfgang Lutz, federführend bei der IIASA-Prophezeihung, sagt eine zunächst weiter steigende Weltbevölkerung voraus, allerdings auch das nahe Ende des Wachstums. Für das Jahr 2075 werden knapp neun Milliarden Erdenbürger errechnet, und schon 2100 soll es einen Rückgang auf 8,4 Milliarden geben. Die Uno prognostiziert für den gleichen Zeitraum eine Zunahme auf zwölf Milliarden. Vor fünf Jahren hatte das IIASA noch rund zwei Milliarden mehr geboten. Im Osten Europas, einschließlich des europäischen Teils Rußlands, geht die Bevölkerung schon in den nächsten 20 Jahren zurück.

Wie bei allen Erhebungen ist von entscheidender Bedeutung, wie und was gefragt wird bzw. welche Faktoren berücksichtigt werden und welche nicht. Die IIASA-Studie berücksichtigt nicht nur die Fertilität (Fruchtbarkeit), sondern auch die statistische Sterblichkeitsrate und diverse Migrationsbewegungen der Völker. Die Datenflut, die durch die komplexe Interdependenz einzelner Faktoren entsteht, ist entsprechend verwirrend und für den Laien praktisch undurchschaubar.

Damit eine Bevölkerung nicht schrumpft, müssen ihre weiblichen Mitglieder im Durchschnitt 2,1 Kinder bekommen (Bestandserhaltungsnivau). Um die Gesamtbevölkerung der Erde zu stabilisieren, müßte demnach die Kinderzahl, zum Beispiel in Afrika, deutlich sinken, während die Europäer und Japaner etwas mehr Kindern eine Chance geben müßten: In Italien kommen nur 1,1 Kinder pro Frau zur Welt, in Japan sind es 1,3 Kinder. Aber auch Chinas Index ist auf 1,8 geschrumpft. Daß sich in Europa der Trend umkehrt, nimmt kein Wissenschaftler ernsthaft an. Der bekannte US-Demograph Ansley Coale hat drei Bedingungen für Familienplanung definiert: wenn erstens weniger Kinder denkmöglich sind, zweitens eine geringe Kinderzahl ökonomisch vorteilhaft ist und wenn es drittens unproblematische Verhütungsmittel gibt. Treffen die drei Bedingungen mit den Errungenschaften der Spaßkultur zusammen, haben Kinder wenig Chancen.

Neben dem allgemeinen abgeschwächten Bevölkerungsanstieg zeigt eine andere Kurve stark nach oben: der Anteil der Alten steigt weltweit dramatisch an. Heute machen die über 60jährigen nur rund zehn Prozent der Erdenbürger aus, am Ende des 21. Jahrunderts sollen es schon 34 Prozent sein. Allerdings werden die Alten nicht gleichmäßig verteilt sein, man wird sie besonders in den industrialisierten Gesellschaften antreffen.

In Zahlen ausgedrückt: In Westeuropa scheint der erwartete Einbruch nicht so dramatisch zu sein, von 456 Millionen (2000) bleiben hundert Jahre später "nur" 392 Millionen übrig. Weit drastischer stirbt die Bevölkerung im Osten Europas (aus 121 werden 74 Millionen) und im europäischen Teil der ehemaligen Sowjetunion (von 236 auf 141 Millionen). Ganz anders die Entwicklung in Afrika: nördlich der Sahara nimmt die Bevölkerung von 173 auf 333 Millionen zu, im Süden verdoppeln sich die jetzt 611 Millionen auf 1,5 Milliarden. Auch der Mittlere Osten zeigt sich geburtenfreudig, dort schnellt die Zahl von 172 auf 413 Millionen.

Wie immer bei solchen Studien gibt es keine präzisen Angaben zur ethnischen Zusammensetzung der zukünftigen Erdbevölkerung. John Bongaarts vom Population Council in New York bringt die Entwicklung trotzdem auf den Punkt: "Die Welt wird weniger europäisch, weniger weiß und weniger nord-amerikanisch sein." Ob Kriege oder Naturkatastrophen ganze Kontinente entvölkern werden, ist ebenfalls nicht voraussehbar. Aber ganz unrealistisch geben sich die Wissenschaftler vom IIASA doch nicht: Mit 15prozentiger Wahrscheinlichkeit leben in hundert Jahren weniger Menschen auf der Erde als heute. 


 
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