© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
Die Solidarität bleibt auf der Strecke
Sozialpolitik: Kranken- und Pflegeversicherung werden teilprivatisiert / Sozialdemokraten für Zwei-Klassen-Medizin
Jens Jessen

Mitte Juli erschreckte Bundeswirtschaftsminister Werner Müller die in den Urlaub strebenden grün-roten Koalitionäre mit –im wahrsten Sinn des Wortes – unerhörten Vorschlägen. Der parteilose Minister dachte in seinem Wirtschaftsbericht 2001 über Reformen der Gesundheitspolitik nach. Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung sollten teilweise durch private Vorsorge abgedeckt werden.

Sozialpolitiker jeglicher Couleur empfinden derartige Gedanken als unappetitlich. Sofort haben sie die Drohung einer Zwei-Klassen- Medizin zur Hand. So sieht das auch die stellvertretende Regierungssprecherin Charima Reinhardt. Am 16. Juli legte sie in Berlin Wert auf die Feststellung, daß die Regierung den Weg Müllers nicht gehen werde. Welchen Weg sie statt dessen gehen will, verschwieg Reinhardt. Es ist auch schwer, immer von Solidarität in einer Spaßgesellschaft zu sprechen, in der es keine Solidarität geben kann. "Doppeltes Einkommen – keine Kinder" lautet die Devise. Mit 58 in Rente heißt das Ziel. Nach einem egozentrischen Leben mit 85 zufrieden sterben ist der Wunsch.

Auf die Idee, daß das Fehlen des Nachwuchses, der die Beiträge für Krankenversicherung und Pflegeversicherung der fröhlichen Alten aufbringt, zu einem Zusammenbruch des Systems führt, will keiner kommen. Wenn die Menschen heute aufgrund der Hochleistungsmedizin mit 65 ein biologisches Alter von 55 Jahren haben und daraus nicht die Konsequenz gezogen wird, daß die Rente erst mit 70 Jahren gezahlt wird, wenn die Grünen und die Gewerkschaften eine Verkürzung der Arbeitswoche auf vier Tage und 30 Stunden fordern, dann ist Müllers Systemänderung das einzig Richtige: Jeder sorgt für seine eigene Versorgung im Rahmen einer Teilprivatisierung der Sozialsysteme. Die Solidarität wird als das entlarvt, was sie heute ist: eine leere Hülle. Der Umbau der Rentenversicherung nach Riester-Art ist dabei Vorreiter. Interessanterweise war der Bundeskanzler schon im Urlaub, als sein Wirtschaftsminister die brisanten Vorschläge in das Sommerloch warf: Auszahlung des Arbeitgeberbeitrags als Lohn, um den Versicherten den Aufbau einer kapitalgedeckten Eigenvorsorge zu ermöglichen. Die Sozialbeiträge unter 40 Prozent zu senken war das propagierte Ziel der Regierung. Der Vorsitzende des Verbands der Angestellten-Krankenkassen (VdAK), Herbert Rebscher, sagte aber letzten Montag in Berlin, es würden derzeit Modelle diskutiert, die die Beitragssätze stabilisieren könnten. "Aber der Druck ist dann nicht weg. Er wird sein Ventil finden." Bald bleibt daher vom 40-Prozent- Ziel nichts mehr übrig, es sei denn, die Beiträge der Arbeitgeber werden nach dem Müller-Vorschlag eingefroren. Mit diesem Trick könnte es gelingen, das gesetzte Ziel zu erreichen, wenn gleichzeitig die Arbeitslosigkeit abgeschmolzen wird. Die maroden Krankenkassen könnten aufatmen, da sie höhere Beiträge erhielten.

Was für die Krankenversicherung gilt, trifft auch für die Pflegeversicherung zu. Um die Pflegebedürftigen in ausreichendem Umfang versorgen zu können, werden die Beiträge steigen. In einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wird von einer wesentlich stärkeren Zunahme der Pflegebedürftigkeit in Deutschland aufgrund der stark zunehmenden Zahl der über 80 Jahre alten Menschen ausgegangen. Der auf 1,7 Prozent der Löhne und Gehälter festgeschriebene Beitragssatz der gesetzlichen Pflegeversicherung wird, so das DIW, "keinesfalls ausreichen", den zukünftigen Aufwand zu decken.

Die Schwierigkeit mit dem Sozialsystem ist keine deutsche Besonderheit. In nahezu allen Industriestaaten schrumpft die Bevölkerung, die Menschen werden älter und der medizinische Fortschritt verursacht höhere Kosten. Das gilt für Japan ebenso wie für Großbritannien, Frankreich und die Niederlande. Die Lösungsversuche für die Probleme sind länderspezifisch. In Japan gibt es eine Grundversorgung. Die Leistungen sind entschieden geringer als die der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Für ambulant behandelte Krankheiten müssen die Japaner 30 Prozent der Kosten tragen bis zu einer monatliche Grenze von 1.200 Mark .

In Großbritannien ist die medizinische Grundversorgung seit Jahrzehnten kostenlos. Die Leistungen liegen jedoch weit unter dem EU-Standard. Das durch Steuern finanzierte Gesundheitswesen zeichnet sich durch fehlende medizinische Ausrüstung und Personalmangel aus. 1,033 Millionen Briten warten auf eine stationäre Behandlung bis über ein Jahr. In Frankreich strecken die Patienten die Kosten einer Behandlung vor. Die Versicherung erstattet bis zu 80 Prozent zurück. Häufig müssen sie jedoch die Hälfte der Behandlungskosten selbst tragen. In den Niederlanden wurde die Krankenversicherung 1996 privatisiert. Große Versicherungskonzerne bieten maßgeschneiderte Policen an. Die Solidarität spielte bei der Privatisierung für die sozialliberale Koalition keine Rolle.

Die Bundesregierung wird an einer radikalen Reform des Gesundheitswesen einschließlich der Pflegeversicherung nicht vorbeikommen. Sie hat genug Verbündete in FDP, CDU und bei den Grünen, die Kapitalismus statt Solidarität wollen, um das Konzept in Bundestag und Bundesrat durchzubringen. Wollte sie die Solidarität, müßte sie die Gesellschaftspolitik ändern: Mehr Einsatz für die Familien, längere Lebensarbeitszeit, weniger Vorteile für die Doppelverdiener ohne Kinder. Dafür aber ist die SPD zu schwach, weil sie keine Partei der Arbeitnehmer, sondern der Funktionäre ist.

Müller als Einzelkämpfer gibt die Stichworte für die Anpassung des Systems an die Realität. Kanzler Schröder wird vor der Bundestagswahl im Herbst 2002 nichts tun. Es sei denn, irgendeine bisher unbekannte politische Kraft zwingt ihn dazu. Nach der Wahl wird die Gesundheitsreform kommen, ohne Ulla Schmidt, die dann ihre Schuldigkeit getan hat. Das Ergebnis heißt dann: Alles Müller oder was?


 
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