© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/01 10. August 2001

 
"Na, springt der?"
Der Fotograf Peter Leibing über die spektakuläre Flucht des DDR-Grenzers Conrad Schumann und das Foto seines Lebens
Moritz Schwarz

Herr Leibing, Sie haben am 15. August 1961, zwei Tage nach Beginn des Baus der Mauer, das Jahrhundertfoto des über den Stacheldraht springenden DDR-Grenzers Conrad Schumann geschossen.

Leibing: Ich habe damals als ganz junger Mann für die Hamburger Fotoagentur Conti-Press gearbeitet. Am 13. August überraschte uns alle der Bau der Mauer: Es brodelte, und es war klar, einer muß nach Berlin, um Aufnahmen von dieser Mauer und den Ereignissen dort zu machen. Also flog ich tags darauf ab.

Die Stadt war unter Schock?

Leibing: Ja – allerdings war ich nicht als Reporter, sondern als Fotograf gekommen und habe deshalb nicht die Stimmung in der Stadt erkundet, sondern bin direkt zum Brandenburger Tor gefahren. Dort standen demonstrativ die Volksarmisten mit Maschinenpistolen im Anschlag. Stacheldraht versperrte den Weg nach drüben. Auf der anderen Seite stand ungläubig die Westberliner Bevölkerung. In ihrer Hilflosigkeit entlud sie ihren Zorn in unablässigen Provokationen gegen die DDR-Sicherheitskräfte – die diese aber ignorierten.

Wirkte die Situation angespannt, als ob sie jederzeit explodieren könnte?

Leibing: Die Atmosphäre war vielleicht gespannt, wirkte aber nicht bedrohlich. Jeder blieb auf seiner Seite, und man wußte offenbar, auch der andere würde auf seiner Seite bleiben. Und so blieb auch die Westberliner Polizei ganz ruhig, allein die Zivilisten schimpften.

Wie drückte sich der Protest der Westberliner konkret aus?

Leibing: Man rief "Buh!", stieß Beschimpfungen aus und ließ seinem Zorn freien Lauf. – Nachdem aber klar war, daß am Brandenburger Tor die Situation unter Kontrolle bleiben würde, habe ich mich zum Pressesprecher der Westberliner Polizei durchgefragt: Wo sollte ich am besten hingehen? Er sagte, daß es morgen wohl in der Bernauer Straße "interessant" werden könnte. Also war ich am 15. August dort.

Mit "interessant" meinte er einen Ausbruch des Volkszorns gegen die Volksmiliz?

Leibing: Damit umschrieb er, daß dort in irgendeiner Hinsicht etwas passieren könnte. Also bin ich tags darauf mit dem Bus dorthin gefahren und dann die Bernauer Straße hinaufmarschiert bis zur Ecke Ruppiner Straße. Dort sah es tatsächlich interessant aus.

Was haben Sie dort gesehen?

Leibing: Auf der Westseite hatte sich dort eine Menschentraube gebildet. Gegenüber stand auf der rechten Straßenseite an einer Hauswand ein Unteroffizier und rauchte, auf der linken Straßenseite patroullierten zwei seiner Kameraden.

Der rauchende Unteroffizier war Conrad Schumann, der mit dem Gedanken an Flucht in den Westen spielte?

Leibing: Ja, er qualmte eine nach der anderen und versuchte sich so ruhig zu halten.

War ihm etwas anzumerken?

Leibing: Nicht direkt, aber die Leute, die dort standen, ahnten wohl irgendwas, denn sie rieten mir dazubleiben, sie stünden schon länger da und hier passiere heute noch etwas. Zwischen den drei Sicherheitskräften und der Menschentraube lag bereits eine ausgebreitete Rolle Stacheldraht. Ich stellte das Teleobjektiv meiner Kamera – übrigens ironischerweise eine "Exacta", also ein DDR-Fabrikat – auf die Stacheldrahtrolle scharf.

Sie ahnten, daß er flüchten würde?

Leibing: Ich verließ mich darauf, daß etwas passieren würde. Zunächst aber warteten wir noch Stunden, dann ging mit einem Mal alles blitzschnell. Gegen 16 Uhr gingen seine beiden Kameraden ein Stück die Straße hinein und verloren Schumann aus dem Blickfeld. Plötzlich warf er seine Zigarette weg und war mit ein paar Sprüngen am Stacheldraht. Mit einem Satz war er über den Zaun. Im Sprung warf er seine Kalaschnikow-Maschinenpistole nach rechts über die Schulter weg.

Sie schossen das Bild Ihres Lebens.

Leibing: Ich hatte Erfahrung vom Springderby in Hamburg, wo ich gelernt hatte, wie man ein Pferd im Sprung richtig fotografiert, so daß es auf dem Bild auch direkt über dem Hindernis zu sehen ist. Das kam mir nun zustatten. Schumann sprang, und ich drückte genau im richtigen Moment den Auslöser. Drückt man erst im Moment des Geschehens, also wenn sich der Springende über dem Hindernis befindet, ist es zu spät für eine saubere Aufnahme. Da es damals noch keine Kamera mit Motor gab, mit der man mit einem Auslöser eine ganze Bildfolge machen kann, war es entscheidend, den richtigen Moment zu erwischen. Es gab nur eine Chance, und so gibt es nur ein Negativ.

Schumann stürzte an Ihnen vorbei.

Leibing: Er verschwand ruckzuck in einen bereitstehenden Kleinbus der Westberliner Polizei, ich glaube, es war ein Opel Blitz. Ein Beamter in der Tür des Fahrzeugs zog den Flüchtenden ins Innere und warf die Tür zu. Das Auto brauste los.

Die Polizei wußte Bescheid?

Leibing: Wie ich schon sagte, man ahnte, es würde etwas passieren. Und man stand bereit. Es hätte sich aber natürlich auch etwas anderes ereignen können.

Wie reagierten Schumanns Kameraden?

Leibing: Es ging alles rasend schnell, und meine Aufmerksamkeit galt dem Flüchtenden. Ich bin dann hinterher geeilt, zur nächsten Polizeiwache, wo man Schumann hingebracht hatte. Dort bekam er auf seinen Wunsch hin erstmal eine Leberwurstschrippe, dann wurde er befragt, und ich durfte dort nochmal ein Foto von ihm machen. Damit war der Spuk beendet.

Woher wußten Sie, an welcher Stelle er über den Stacheldraht springen würde?

Leibing: Das ging nur an dieser Stelle, zudem stand er ja nahebei an der Hauswand und wartete.

Er wartete Stunden ...

Leibing: Eine Anspannung war ihm schon anzusehen, und wir dachten natürlich: Na, springt der? Aber wissen konnte es selbstverständlich niemand.

Sind denn in diesen Tagen noch weitere Grenzsoldaten desertiert, oder war Schumann ein Einzelfall?

Leibing: Soviel ich weiß, war er wohl der einzige.

War Ihnen bewußt, daß Sie ein Jahrhundertbild geschossen hatten?

Leibing: Zunächst nicht. Ich wußte natürlich, es war ein tolles Bild: Ein Mann von der Bild-Zeitung – er hatte den Schuß nicht bekommen, weil er falsch stand – überredete mich, mit zu seiner Redaktion zu kommen. Wir mußten erst einmal sehen, ob das Foto überhaupt etwas geworden war. Schließlich erschien das Bild dann am 16. August groß in der Bild-Zeitung. Der Stern wollte es sofort als Titelbild haben, verzichtete dann aber wegen der Veröffentlichung in der Bild-Zeitung. Erst im Flugzeug schwante mir langsam, daß ich vielleicht ein wirklich bedeutendes Bild gemacht hatte.

Neben Ihrem Foto gibt es noch einen Film, der die Geschehnisse ebenfalls zeigt. Der Kameramann stand unmittelbar in Ihrer Nähe.

Leibing: Ja, er stand direkt links neben mir und ist auf meinem Foto sogar mit zu sehen. Er filmte für eine Wochenschau.

Viele Leute wissen gar nicht, daß Ihr Foto ein Foto ist und kein Standbild aus dem Film.

Leibing: Nein, auf keinen Fall! Die berühmt gewordene Fotografie ist das Bild von mir. Tatsächlich aber haben sich clevere Leute einfach ein Standbild aus dem Film besorgt und es als mein Foto verkauft. Man erkennt den Unterschied aber deutlich, wenn man beide Bilder vergleicht, auf den Filmbildern sind etwa Schumanns Beine leicht überkreuzt, weil die Filmkamera des Kollegen das nicht so sauber "mitbekommen" hat.

Wie haben Sie den Bau der Mauer persönlich empfunden?

Leibing: Zunächst habe ich innerlich gar nicht so richtig darauf reagiert. Ich bin erstmal nach Berlin geflogen und habe Bilder geschossen. Erst mit der Zeit, als ich danach wieder in Hamburg war, kam der Zorn.

Fünfundzwanzig Jahre später haben Sie Conrad Schumann wiedergesehen und persönlich kennengelernt.

Leibing: Ja, anläßlich eines Fototermins zum 25. Jahrestag des Mauerbaus habe ich ihn in Berlin wiedergetroffen und kennengelernt. Danach habe ich ihn bei Terminen immer wieder gesehen, wir haben uns aber auch persönlich und sogar privat gut verstanden, auch unsere Ehefrauen. Während wir der Presse zur Verfügung standen, haben die meist hinter den Kulissen "geklönt". Es entwickelte sich eine kleine Freundschaft.

Hat Schumann mit Ihnen auch über seine Gründe für seine Flucht damals gesprochen?

Leibing: Das hat er getan: er sagte mir, er habe nicht in eine Situation kommen wollen, wo er gezwungen gewesen wäre, auf Menschen zu schießen.

Das heißt, er ist vor der Diktatur und nicht in den Wohlstand geflohen?

Leibing: Das könnte ich mir vorstellen.

Welchen Eindruck hat er persönlich auf Sie gemacht?

Leibing: Einen gelösten.

Conrad Schumann fühlte sich zeit seines Lebens von der Stasi verfolgt. Immer hatte er Angst, Agenten des MfS in die Hände zu fallen und als Verräter und Deserteur zurück in die DDR geschafft zu werden. Hat er jemals mit Ihnen über das Problem seiner tatsächlichen oder eingebildeten Bedrohung gesprochen?

Leibing: Nein, obwohl wir uns ausführlich unterhalten haben. Ich merkte allerdings, er hatte Angst.

Sie haben Schumann berühmt gemacht, ohne Ihr Foto wäre sein Name wohl nur noch ein vergessener Eintrag auf irgendeiner Zählliste. Hat er das jemals reflektiert?

Leibing: Mir gegenüber hat er so etwas jedenfalls nie verlauten lassen. Ich weiß es zwar nicht, aber ich glaube es nicht, daß er das getan hat.

Haben Sie mit dem Foto nicht auch unfreiwillig den Zorn der DDR auf Schumann gelenkt? Eigentlich war der Vorfall eine Randepisode, aber mit dem Foto haben Sie diese auf eine Art dokumentiert, die der DDR auf ewig peinlich sein mußte.

Leibing: Ich bin so selbst ins Visier der Stasi geraten. Schließlich wurde sogar verbreitet, ich wäre Handlanger gewesen und hätte Schumann zur Flucht angestiftet.

Conrad Schumann hat sich 1998 in seinem Gartenhaus erhängt. Kam sein Tod überraschend für Sie?

Leibing: Das kam völlig überraschend. Es war am frühen Sonntagmorgen, also habe ich zusammen mit meiner Frau für das Hamburger Abendblatt sofort die Geschichte unserer Freundschaft aufgeschrieben. Der Text endete mit dem Satz: "Ich habe einen Freund verloren".

Hatten Sie auch nach Schumanns Tod noch Kontakt zu seiner Witwe?

Leibing: Wir sprachen sie kurz nach Conrads Tod.

Hat sie jemals mit Ihnen über die Gründe für seinen Freitod gesprochen?

Leibing: Nein.

Er soll sich erhängt haben, weil er den tatsächlichen oder eingebildeten Verfolgungsdruck nie losgeworden ist.

Leibing: So soll es gewesen sein. Als wir ihn das letzte Mal sahen, haben wir nichts davon bemerkt. Allerdings hat ihm das wohl auch nach dem Ende der DDR zu schaffen gemacht.

Er warf Ihnen vor, daß er nie Geld für das Foto bekommen hat?

Leibing: Na ja, ich erinnere mich, daß er einmal bemerkte, ich sei wohl mit seinem Bild reich geworden.

Tatsächlich haben Sie allerdings kaum je Umsatzprozente für Ihr Bild bekommen, schließlich mußten Sie sogar um das Recht an Ihrem Bild kämpfen.

Leibing: Als die Agentur Conti-Press schließlich pleite ging, hat das Hamburger Staatsarchiv den gesamten Bestand ersteigert, inklusive meines Negatives. Ich habe gegen die Hansestadt Hamburg prozessiert, um mein Copyright zu bekommen. In einem Vergleich habe ich schließlich gewonnen. Endlich verdiene ich nun auch wirklich etwas an meinem immer wieder abgedruckten Bild. Und natürlich hat mich auch der "Schmu" mit dem Filmstandbild geschädigt.

Hat der Ruhm des Bildes Ihre Reputation und Karriere als Fotograf befördert?

Leibing: Nein, gar nicht. Manchmal hieß es: "Ach, Du hast dieses Bild gemacht! Ach, schön, Gratulation." Das war’s. Wegen des Bildes habe ich nie einen Job bekommen oder es leichter gehabt. Aber das wollte ich auch gar nicht.

Hat die Mauer Ihr Leben verändert?

Leibing: Nein.

Wie haben Sie es erlebt, als 1989 die Mauer fiel?

Leibing: Da war ich im Urlaub auf Gran Canaria, und ich habe zuerst gar nichts mitbekommen. Schließlich kam der Hotelmanager zu uns und teilte uns mit, die Mauer sei gefallen. Ich rief nur aus – und das wörtlich: "Scheiße! Und ich bin nicht da!" 

 

Peter Leibing: geboren 1941 in Hamburg. Aus Leidenschaft für das Fotografieren brach er seine Lehre bei Siemens ab und arbeitete zunächst für eine Fotoagentur, die ihn am 13. August 1961 nach Berlin schickte. Dort schoß Leibing das Foto seines Lebens, das weltberühmt werden sollte und zu einem jener Bilder avancierte, die stellvertretend für die Epoche der deutschen Teilung stehen. Nach einer Ausbildung zum Fotografen arbeitete er bis zu seinem Ruhestand als Fotograf und Polizeireporter für das Hamburger Echo, die Hamburger Morgenpost und das Hamburger Abendblatt. Heute lebt Leibing in Oerel bei Bremervörde.

 

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