© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/01 27. Juli / 03. August 2001

 
An der Saale blühen die Rosen üppig
Musikfestival: Zum sechzehnten Mal fand der Kissinger Sommer statt / Ausstellung zum 1200jährigen Stadtjubiläum im Alten Rathaus
Hans-Jörg von Jena

Man staunt, wenn man vor einer Originalurkunde Ludwigs des Frommen steht, ausgestellt in "Ketzicha" am 12. Mai 840. Darin werden vom Sohn Karls des Großen einem Mann namens Helis seine Eigengüter, "widerrechtlich besetzt, beansprucht und unserem Fiscus einverleibt", vollständig zurückerstattet. Restitutionen, lernt man, gab es schon in alten Zeiten. Sollten sich Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht in der Frage de "Alteigentümer" nicht am karolingischen Kaiser ein Beispiel nehmen?

Kissingen hat eine reiche, dank dem nahen Kloster Fulda gut dokumentierte Geschichte. Dies Jahr feiert das Kurstädtchen sein 1.200jähriges Jubiläum mit einer Ausstellung im Alten Rathaus und einer prachtvoll ausgestatteten Festschrift des Stadtarchivs (hg. von Thomas Ahnert und Peter Weidisch). Zur Kissinger Historie gehört etwa der Minnesänger Otto von Botenlauben, bekannt durch eine Miniatur in der Manesseschen Liederhandschrift, der sich oberhalb Kissingens seine Burg baute (die Ruine existiert noch). Oder jener Bürger namens Peter Heil, der während des Dreißigjährigen Krieges in der "Bienenschlacht" die Stadt vor den Schweden rettete, indem er sämtliche Imkerstöcke auf die Angreifer herabstürzen ließ (Ludwig Bechstein hat es beschrieben). Schade, daß Ricarda Huch in ihren Städtebildern "Im alten Reich" Franken stiefmütterlich behandelt; Kissingen hätte gut in die Reihe historisch einfühlsamer Städteporträts gepaßt.

Weit bekannt wurde Kissingen im 19. Jahrhundert als Staatsbad, wo sich gekrönte Häupter und andere Hochmögende im Sommer zur Kur einfanden und dabei manch unverfängliches "Gipfelgespräch" führten. Als berühmtester Kurgast gilt Bismarck, der sich fünfzehnmal zur Erholung in Kissingen aufhielt und dabei Muße fand zum "Kissinger Diktat" zur Außenpolitik (1877) oder ersten Versöhnungsangeboten im "Kulturkampf". Ein kleines Bismarck-Museum am historischen Ort mit der originalen Einrichtung demonstriert aber auch mittels Waage und Wiegekarte, wie der Urlauber Bismarck seiner Zwei-Zentner-Leibesfülle vergeblich Herr zu werden versuchte.

Vom Kissinger Sommer von einst zum "Kissinger Sommer" von heute: das ist eine vergleichsweise kurze, gleichwohl mit musikalischen Begebnissen bereits prall gefüllte Geschichte. In den achtziger Jahren reifte der Entschluß, das reizvoll am Rande der Rhön, aber im Abseits des "Zonenrandgebiets" gelegene Städtchen durch ein Festival aufzuwerten. Seit es 1986 (im gleichen Jahr wie das landesweite Schleswig-Holstein-Musikfestival) zum erstenmal stattfand, hat es sich rasch internationale Wertschätzung erwarben, die in einer Jahr für Jahr steigenden Zahl von eigens anreisenden Besuchern sinnfälligen Ausdruck findet. Zu nicht weniger als achtzehn Symphonie-Konzerten gaben sich beim diesjährigen 16. Kissinger Sommer führende Orchester aus Frankfurt, Leipzig, Stuttgart, Bamberg und München, von außerhalb Deutschlands aus London, Moskau, Budapest und Turin die Klinke in die Hand, und fast jedesmal war der 1150-Plätze-"Regentenbau" ausverkauft.

Das soll einer Kurstadt von 22.000 Einwohnern erst einmal ein anderes Festival nachmachen! Der "Kissinger Sommer" ist bei der Bewohnerschaft populär. Und wer von auswärts kommt, verbindet mit dem abendlichen Kultur- sein eigenes tägliches Erholungsprogramm (oder umgekehrt), sich in gepflegten Parks zwischen Rosenbeeten ergehend oder im Mini-Motorschiff die Saale hinauf tuckernd.

Zu den Symphonie-Konzerten gesellt sich, kaum weniger beachtet und begehrt, eine Fülle von Solisten- und Kammerkonzerten, gelegentlich ein Operngastspiel oder eine Cross-over-Annäherung an den Jazz. Kissingen bietet Platz und hat – ein kostbares Erbe aus Bayerns spätmonarchischen Zeiten – Gebäude und Räume für vieles. Daß aus dem vielen nicht ein beliebiges musikalisches Allerlei wuchert, dafür sorgt nach Kräften Kari Kahl-Wolfsjäger, die mit fester, behutsamer Hand als Intendantin das Festival seit seiner Gründung leitet. Die vertraulichen Gipfelgespräche auf der Kurpromenade gehören der Vergangenheit an. Ihre Stellen nehmen heute am ehesten die öffentlichen Diskussionsrunden ein, in diesem Jahr über das heikle Thema der kulturpolitischen Rolle des Bundes im vereinigten Europa (geleitet von Peter Ruzicka, dem kommenden Intendanten der Salzburger Festspiele). Kundige Kulturmanager gaben da Auskunft über ihre Sorgen, aber einigermaßen offenherzig auch über Finanzierungstricks.

An einem Wochenende hat mit "Komponistentreff" und "langer Komponistennacht" ausschließlich die zeitgenössische Musik das Wort. Deren Höhepunkte lagen dieses Jahr beim Klavier: Rodion Schtschedrin spielte eine eigene Sonate, und Markus Hinterhäuser weitete die sechs Klaviersonaten der scheuen Russin Galina Ustwolskaja zu einem Panorama elementarer Lakonismen, das eines Tages ähnlich wichtig werden dürfte wie der Zyklus von Béla Bartóks sechs Streichquartetten.


 
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