© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/01 20. Juli 2001

 
Die Flucht des Nuntius
Wie Erzbischof Orsenigo 1945 Berlin verließ
Peter Muschol

Völlig unbeachtet anläßlich der prachtvollen Feierlichkeiten zur Wiedereröffnung der Apostolischen Nuntiatur in Berlin (die Bad Godesberger Idylle hatte der jetzige Amtsinhaber und traditionelle Doyen des Diplomatischen Korps, Erzbischof Lajolo, "mit einiger Wehmut" verlassen müssen) blieb das Schicksal seines Vorgängers, Erzbischof Cesare Orsenigo.

1963 erschien in einer Festschrift der Steyler Missionare der erst jetzt wiederentdeckte "Augenzeugenbericht über die letzten Tage der Apostolischen Nuntiatur in Berlin bei Kriegsende 1945" von Pater Eduard Gehrmann SVD, der von 1924 bis 1945 Privatsekretär der Nuntien Pacalli und Orsenigo war. Weder das Staatssekretariat des Vatikans noch das Archiv des Auswärtigen Amtes besitzen Unterlagen über die letzten Monate des Nuntius in Berlin.

Schon die Erklärung eines Nuntiaturrates bei der Einweihung des neuen Nuntiaturgebäudes an der Berliner Hasenheide am 29. Juni dieses Jahres, Erzbischof Orsenigo hätte nach der Zerstörung der alten Nuntiatur in der Rauchstraße Berlin verlassen und wäre "nach Westdeutschland" gezogen, ist falsch. Er gebraucht bezeichnenderweise den alt-Westberliner Sammelbegriff ’Westdeutschland‘ für die Besatzungszonen von Flensburg bis Berchtesgaden ... Tatsächlich waren die Ereignisse im Winter/Frühjahr 1945 wesentlich differenzierter.

Das Gebäude in der Rauchstraße 21 war bereits im November 1943 durch Bomben schwer beschädigt und im Januar 1945 völlig zerstört worden. Die Reichsregierung wies daraufhin ihrem bei ihr akkreditiereten höchsten Diplomaten Schloß Prötzel (zwischen Strausberg und Wriezen im brandenburgischen Oderbruch gelegen) als Residenz an. Pater Gehrmann blieb mit dem Büro der Nuntiatur am Michaelkirchplatz in Berlin zurück.

Als am 26. Januar 1945 die Rote Armee bedrohlich gegen die deutschen Verteidigungslinien an der Oder vorstieß und am 30. Januar nun noch 20 Kilometer von Prötzel entfernt war, verließ der Nuntius mit seinem Stab überstürzt das Schloß und sollte auf Anweisung des Chefs des Protokolls, Baron von Dörnberg, nach Berlin zurückgebracht werden. "Um 19 Uhr kamen sie in Berlin sichtlich aufgeregt an und fuhren – da ein Luftangriff gegen Berlin an diesem Abend in sicherer Aussicht stand – nach kurzem Aufenthalt nach dem von der Regierung bestimmten Nedlitz bei Potsdam weiter". Soweit der Bericht von Pater Gehrmann, der somit das heute zu Potsdam gehörende Nedlitz erwähnt, die letzte Residenz des Apostolischen Nuntias bei Kriegsende. Wo sich das entsprechende Gebäude befand, ist nicht mehr feststellbar.

Da Pater Gehrmann keinen diplomatischen Status besaß, benannte Erzbischof Orsenigo seinen Nuntiaturrat Karl Colli als seinen Vertreter und beschloß, nach Eichstätt in Bayern umzuziehen. Dies erregte den Unwillen der Deutschen Reichsregierung, wie P. Gehrmann berichtete: "Es sei für die Deutsche Reichsregierung untragbar, wenn der Doyen des Diplomatischen Korps in dem Augenblicke, wo die Reichsregierung selber noch in Berlin sei und auch die anderen Dipiomaten sämtlich in Berlin und Umgebung sich aufhalten, sich von Berlin entferne, und er (gem. der Chef des Protokolls) könne für diese Reise nach Bayern auch kein Benzin zur Verfügung stellen."

Monsignore Colli wurde am 3. Februar durch einen Bombenangriff seelisch so erschüttert, daß schließlich dem Nuntius und ihm die Ausreise am 8. Februar 1945 genehmigt wurde. Die Ereignisse am 3. Februar gehören zu den zahlreichen Schilderungen nach Bombenangriffen auf Berlin, sollen aber im Zusammenhang mit dem Ende einer der wichtigsten diplomatischen Vertretungen bei der Deutschen Reichsregierung zitiert werden: "Am Sonnabend, dem 3. Februar früh, kam Msgr. Dr. Colli von Potsdam nach Berlin und kam bis zum Potsdamer Platz. Am frühen Vormittage dieses Tages erfolgte einer der schwersten Luftangriffe auf Berlin. Mehr als 2.500 Flugzeuge bewarfen durch über drei Stunden die Stadt. Auch der Potsdamer Platz wurde dabei auf das schwerste angegriffen und Msgr. Dr. Colli befand sich während dieser Zeit in der Untergrundbahn, einem sehr gefahrvollen Orte. Hier sah er die Menschen zu Hunderten die Treppe tot oder verstümmelt herunterstürzen; ein furchtbares Schreien von Kindern und Frauen durchzitterte die Untergrundbahn und es erfaßte ihn ein furchtbarer Schrecken. Er lief, wie er mir sagte, über eine halbe Stunde in den Gängen der Untergrundbahn in der Dunkelheit umher, verlor dabei seinen Hut, seinen Schirm und seine Handschuhe und kam beim Schluß des Alarms als ein völlig erschöpfter Mann in Hotel Adlon an, wo er von den Beamten des Auswärtigen Amtes gefunden wurde ..."

Nuntius Orsenigo verstarb am 17. April 1946 in Eichstätt und wurde später in seine italienische Heimat Olginate bei Como überführt. Nuntiaturrat Colli starb am 1. Februar 1947. Bereits 1946 ernannte Papst Pius XII. den nordamerikanischen Bischof Münch zum Apostolischen Visitator in Deutschland im Sitz in Kroberg (Taunus) und erhob ihn 1950 zum Apostolischen Nuntius bei der Deutschen Bundesregierung. Pater Eduard Gehrmann kehrte ins Rheinland zurück und starb am 3. Dezember 1962 in Siegburg.

Seine Jahre in Berlin (er war dort Alter Herr der CV-Verbindung Borusso-Saxonio) und seine – immer wieder bestrittenen – Sympathien für den Nationalsozialismus bedürfen noch einer wissenschaftlichen Bewertung. Ob der Heilige Stuhl und seine neuen Vertreter in Berlin nach nunmehr 56 Jahren daran interessiert sind?


 
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