© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/01 20. Juli 2001

 
Seltsame Bettgefährten
Wer von Einwanderung redet, darf von der Logik des Kapitals nicht schweigen
Alain de Benoist

Anfang Juni forderte Michael Rogowski, Präsident des Bundes verbandes der Deutschen Industrie (BDI), eine sehr viel höhere Einwandererzahl als selbst von der Zuwanderungskommission der Bundesregierung veranschlagt. Er halte es für realistisch, jährlich zwischen 300.000 und 400.000 ausländische Arbeitnehmer ins Land kommen zu lassen, sagte Rogowski im Interview mit der Berliner Zeitung. Einige Monate zuvor hatte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt erklärt, Deutschland werde in Zukunft mehr und mehr auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sein.

In Frankreich hat sich die Pariser Industrie- und Handelskammer ebenfalls dafür ausgesprochen, auf Arbeitskräfte aus dem Ausland zurückzugreifen. Während Denis Gautier-Sauvagnac, Sprecher der Gewerkschaft metallverarbeitende Industrien und Bergbau (UIM), bekannte, daß es "nicht unvernünftig wäre, die Migrationsströme umzukehren", verkündete Jean-Louis Giral, Beauftragter des Unternehmerverbandes Medef (Mouvement des Entreprises de France) für den öffentlichen Bausektor, "unser Vorrat an ausländischen Arbeitnehmern" bedürfe der Aufstockung. Auch in Italien plädierte ein Bericht der Vereinigung der Handelskammern (Unioncamera) dafür, "qualifizierten Einwanderern" die Grenzen weiter zu öffnen und die Quoten für die Ausstellung von Arbeitsgenehmigungen zu erhöhen. Ganz ähnliche Töne vernimmt man aus Spanien.

Bislang waren linke Kleingruppen und Befürworter einer "Welt ohne Grenzen" die einzigen, die sich offen für mehr Einwanderung aussprachen. Inzwischen muß man auch die Arbeitgeber dazuzählen. Somit sind wir zu einem Zustand zurückgekehrt, der Anfang der 1960er Jahre herrschte. Schon damals sorgten die Arbeitgeber dafür, daß die ersten massiven Einwanderungswellen den europäischen Kontinent überschwemmten. Sie wollten damit erreichen, daß in einigen Branchen notwendige Verbesserungen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen abgebremst wurden.

Heute wird die Notwendigkeit einer stärkeren Einwanderung zum einen mit dem "Mangel an Arbeitskräften" in bestimmten Branchen begründet, zum anderen die demographische Krisenlage, in der sich die meisten europäischen Staaten momentan befinden.

Selbst wenn man zugesteht, daß nicht jeder Mensch jede Arbeit verrichten kann, ist ersteres Argument in Anbetracht der derzeitigen Arbeitslosenzahlen reine Traumtänzerei. Die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums läßt deren Reihen stetig anschwellen. Kann man hier tatsächlich von einem "Mangel an Arbeitskräften" sprechen? Wäre die bessere Lösung nicht die, in weniger attraktiven Gewerben die Gehälter zu erhöhen und auch Menschen über fünfzig (Arbeitnehmern wie Arbeitslosen) noch die Fortbildung und Umschulung zu ermöglichen? Auf diese Weise ließe sich das Problem lösen, indem man zunächst den Bedürfnissen inländischer Arbeitsloser gerecht wird.

Daß die demographische Entwicklung besorgniserregend ist, läßt sich nicht verleugnen. In großen Teilen der Europäischen Union liegt die Geburtenrate weit unter dem für eine Bevölkerungserneuerung notwendigen Prozentsatz. Selbst in den traditionell geburtenstarken katholischen Ländern Spanien und Italien ist sie mittlerweile auf 1,2 Kinder pro Frau gefallen. Wird dieses Tempo beibehalten, wird Deutschland bis 2050 elf Prozent seiner Bevölkerung verloren haben, Österreich 14 Prozent, Spanien 24 und Italien gar 28.

In Deutschland alleine dürfte sich dieser Rückgang auf an die 20 Millionen Menschen belaufen. Insgesamt gesehen wird das Europa der 15 innerhalb eines halben Jahrhunderts 40 Millionen Einwohner verlieren. Schon heute verdanken wir siebzig Prozent des Bevölkerungswachstums den Migrationsbewegungen. Zusammen mit der steigenden durchschnittlichen Lebenserwartung bedingt dieser Geburtenschwund eine drastische Überalterung der Bevölkerung: So wird es immer weniger Arbeitende geben, die den Lebensstandard der Gesamtbevölkerung sichern und die Kosten immer älter werdender Rentner decken müssen.

Zu glauben, daß die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer in dieser Situation Abhilfe schaffen kann, ist nicht weniger unrealistisch. Man vergißt dabei, daß auch die Einwanderer älter werden, so daß sich früher oder später zwangsläufig die Frage stellt, wer wiederum die Renten der Neuankömmlinge bezahlt, wenn diese selber nicht mehr arbeiten können. Die einzig mögliche Antwort, die die Arbeitgeber darauf geben können, lautet, noch mehr Einwanderer ins Land zu holen. Deren Zahl wird sich immer weiter steigern, und so landet man in einer endlosen Einwanderungsspirale.

So ergibt sich das nur noch grotesk zu nennende Szenario, das die Uno im März 2000 veröffentlichte. Um das derzeitige Verhältnis von vier oder fünf Arbeitenden pro Rentner beizubehalten, so die Studie, bräuchte die Europäische Union in den nächsten fünfzig Jahren insgesamt 700 Millionen zusätzliche Einwanderer. Dies würde einen jährlichen Zufluß von 12,7 Millionen Menschen bedeuten. Für Frankreich wurde der Bedarf auf 91 Millionen Einwanderer bis 2050 beziffert (1,7 Millionen pro Jahr) – eine Zahl, die höher liegt als die der Gesamtbevölkerung der Maghreb-Region! Der (linksliberale) Demograph Hervé Le Bras hat sogar errechnet, daß – legt man die Berechnungen der Uno zugrunde, die er selber für absurd hält – bis zum Ende des 21. Jahrhunderts über eine halbe Milliarde Menschen nach Frankreich kommen müßten, um das derzeitige Rentenniveau zu halten! Hier kann es sich nur noch um Wahnvorstellungen handeln.

Die Wirklichkeit ist sehr viel prosaischer. Indem sie für eine verstärkte Einwanderung die Werbetrommel rühren, schaffen sich die Arbeitgeber ein Mittel, den Arbeitsmarkt unter Druck zu setzen. Sie wollen schlecht bezahlte Stellen mit Neuankömmlingen besetzen, weil diese vermeintlich pflegeleichter sind: verwundbarer und einer ungewisseren Zukunft ausgesetzt als einheimische Arbeitnehmer, stellen sie weit weniger Anforderungen. Genauso wie vor vierzig Jahren streben sie danach, Belegschaften zu Niedrigstpreisen zu rekrutieren und die ausländischen Arbeitskräfte die Rolle eines Puffers spielen zu lassen. Kurz gesagt, es geht darum, den Arbeitsmarkt mehr und mehr zu "flexibilisieren" und sich so die Lohnerhöhungen sparen zu können, die nötig wären, um der steigenden Arbeitslosigkeit unter den Einheimischen beizukommen.

Auffällig ist, daß die Arbeitgeber in ihren Überlegungen nur eine einzige Variable interessiert, nämlich die wirtschaftliche. Sie machen sich keinerlei Gedanken um den Problemkomplex, der mit der Einwanderung einhergeht; Faktoren wie Kultur, Stadtentwicklung, gesellschaftliches Zusammenleben, Ökologie oder innere Sicherheit berücksichtigen sie nicht.

Menschliche Individuen als bloße Produzenten und Konsumenten zu betrachten und Werktätige als einen jederzeit austauschbaren "Vorrat" an Arbeitskräften; die kollektiven Interessen einer Gesellschaft auf ihre wirtschaftliche Dimension zu reduzieren, entspricht völlig der kapitalistischen Logik des laisser faire, laisser passer und des schnellen, kurzlebigen Profits. Der liberale Kapitalismus hält politische und kulturelle Grenzen per definitionem für unerheblich. In seinem Selbstverständnis sind Menschen praktisch gleichwertige Produktionseinheiten; für ihre Herkunft und ihre soziokulturelle Eingebundenheit interessiert er sich nicht. Ihn kümmert nichts als die Profitvermehrung auf einem Weltmarkt, der sogar die gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu Handelsware zu machen sucht.

Zum Zeitpunkt des G8-Gipfels in Genua sollte man sich ins Gedächtnis rufen, daß die extreme Linke und die Anhänger des Wirtschaftsliberalismus in bezug auf die Einwanderung zu nahezu identischen Schlußfolgerungen gelangt sind – und daß die radikale Linke es somit vorzieht, sich mit den Arbeitgebern zu solidarisieren, anstatt dem Willen des Volkes Ausdruck zu geben.

Wer von Einwanderung redet, ohne die Logik des Kapitals zu erwähnen, der sollte lieber schweigen. Umgekehrt gilt das freilich genauso.

 

Alain de Benoist ist der führende Theoretiker der französischen Neuen Rechten ("Nouvelle Droite") und Herausgeber der in Paris erscheinenden Kulturzeitschrift Nouvelle Ecole.


 
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