© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/01 20. Juli 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Ein kompliziertes Verhältnis
Carl Gustaf Ströhm

Wie halten wir’s mit Rußland? Seit der Wiedervereinigung ist dies die Gretchenfrage der Berliner Außenpolitik – sofern eine solche derzeit überhaupt wahrnehmbar ist. Nicht erst seit gestern sind gegenüber Rußland zwei problematische deutsche Denkschulen zu erkennen. Da sind einmal die gnadenlosen Rußland-Kritiker, die das Unberechenbare, ja sogar Dämonische der russischen (bis 1991 sowjetischen) Politik betonen. Auf der anderen Seite stehen die "Russophilen", die zu Moskau ein geradezu sentimentales Verhältnis unterhalten, die von der weiten "russischen Seele" schwärmen und eine Partnerschaft in allen Lebensbereichen anvisieren.

Während die Rußland-Fresser seit dem Zerfall der Sowjetunion geschwächt sind, befinden sich die "Russophilen" auf dem Vormarsch – und zwar bis tief ins bürgerliche Lager hinein. Deutsche Politikerreden und Leitartikel waren und sind voll "Dankbarkeit" gegenüber Gorbatschow, der den Deutschen die Einheit geschenkt habe – obwohl der letzte Generalsekretär der KPdSU nur die bereits unabwendbaren Tatsachen sanktionierte. Der unpolitische deutsche Michel ergoß sich in Ergebenheitsadressen an einen Mann, der selber immer wieder einen Ausspruch des britischen Viscount Palmerston zu zitieren pflegte: "Staaten haben keine Freunde, sondern Interessen."

Ins deutsche Rußland-Verhältnis und -Verständnis spielt ein weiterer irrationaler Faktor hinein – der Überdruß an den Amerikanern, von denen die Bundesrepublik in so spürbarer (und manchmal demütigender) Weise abhängig war und ist. Schon um den verhaßten "Amis" eins auszuwischen, nähert man sich gerne einer einstweilen noch chimärenhaften "russischen Option" – nach dem Motto: "Es geschieht meinem Vater ganz recht, daß ich mir die Finger abfriere – warum hat er mir keine Handschuhe gekauft?"

Das Liebäugeln mit der russischen Karte mag sogar sinnvoll sein – solange man sich der Grenzen bewußt ist. Von Generaloberst Hans von Seeckt, der 1920–26 die Reichswehr aufbaute, stammt der Satz: "Wir können uns sehr gut die Finger am russischen Feuer wärmen, solange der polnische Fluß dazwischen ist." Damit hatte der spätere Berater Tschiang Kai-scheks die Möglichkeiten deutsch-russischer Sonderbeziehungen trefflich umschrieben. Rußland ist und bleibt ein wichtiger Nachbar und möglicher Partner für die Deutschen – aber man darf sich niemals in die Abhängigkeit unüberschaubarer russischer Entwicklungen begeben. Und man darf die russische Karte nie wieder auf Kosten Dritter (Polen, Balten) spielen. Das eurasische Riesenreich wird trotz vieler Annäherungen und Gemeinsamkeiten niemals ein Teil des "Abendlandes" sein, zu dem Deutschland gehört. Man kann Rußland in seiner Andersartigkeit achten – aber man sollte es nicht kopieren wollen. Und Wladimir Putin mag sein, was er will – aber ein Mann des Westens ist er noch weniger als seine Vorgänger. Man kann mit ihm Geschäfte machen – aber man sollte sich nicht vereinnahmen lassen.

Dem Verfasser dieser Zeilen ist eine US-Wochenschau von 1945 in Erinnerung: Gezeigt werden deutsche Soldaten, die sich kurz vor Kriegsende auf die Ennsbrücke in der Steiermark zu bewegen, auf deren westlichem Ufer schon die Amerikaner standen. Plötzlich sieht man, wie die Landser zu rennen beginnen: es hatte sich herumgesprochen, daß die "Russen" (Sowjets) sich näherten. Offensichtlich wollte niemand ihnen freiwillig in die Hände fallen. Diese "Abstimmung mit den Füßen" vollzogen Millionen Menschen. Auch das war ein Beitrag zur Ostpolitik.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen