© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/01 06. Juli 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Neue Mitte
Karl Heinzen

Es gibt, so bemerkte Louis Althusser, ein Bedürfnis der Bourgeoisie, ihre eigene Klassenherrschaft als die Freiheit der von ihr Ausgebeuteten zu leben. Die "Eckpunkte für eine menschenrechtliche Zuwanderungspolitik", die die PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag beschlossen hat, zeigen aufs Neue, daß die Post-Sozialisten ihre Mitwirkung an der diesen Sinn stiftenden Ideologie nicht versagen. Wo die Welt voller Menschen ist, mit denen man sich so gerne verbrüdern möchte, ist es nicht leicht, einen Klassenstandpunkt zu behaupten. Da kann es nicht schaden, sich an den Wünschen jener zu orientieren, die per se das Sagen haben. Sie sind, auch was die Immigration betrifft, leicht zu erraten: Wenn das Kapital keine Grenzen kennt, kann es nicht angehen, die Mobilität seines Zubehörs einzuschränken.

Nach den Vorstellungen der PDS kann daher unter anderem einwandern, "wer hier ein Studium oder eine Ausbildung beginnen will, wer ein Unternehmen gründen will, wer einen Arbeitsplatz vorweisen oder wer seinen Lebensunterhalt anders bestreiten kann". Ist man damit vielleicht ein wenig über das Ziel hinausgeschossen? So unverblümt würde schließlich nicht einmal der Bundesverband der Deutschen Industrie seine Interessenlage darstellen wollen.

Im großen und ganzen stimmt aber die Richtung: Wann gab es das letzte Mal im großen Stil die Möglichkeit, qualifizierte Arbeitskräfte unter Vertrag zu nehmen, deren Ausbildungskosten andere zu tragen hatten? Da wird man wohl bis in die Zeit vor dem Mauerbau zurückgehen müssen. Das Kapital will die Reproduktion der Arbeit möglichst nur noch individuell verstanden wissen und sich die Aufzucht künftiger Generationen ersparen? Kein Problem, die PDS leistet ihren Beitrag, um nie versiegende Quellen der industriellen Reservearmee zu erschließen. Die aktuell Einheimischen versperren sich einem wildwüchsigen Zuzug, weil sie einen Konkurrenzdruck befürchten müssen, der die an sie gerichteten Anforderungen steigen und ihre Lebensansprüche sinken läßt? Gut, daß es hier die PDS gibt, die Mißverständnissen vorzubeugen hilft, jenem zum Beispiel, daß eine relevante gesellschaftliche Kraft vorstellbar ist, die die arbeitenden Massen vor den Zumutungen einer besitzenden Minderheit schützt.

Für die Post-Sozialisten kommt es aber längst nicht mehr in Frage, sich auf einen Hauptwiderspruch zu versteifen, wo es doch die Aufgabe zu bewältigen gilt, einen Interessenausgleich der Aufnahmegesellschaft mit den Immigranten zu erzwingen. Es mag sein, daß die PDS immer noch von Menschen gewählt wird, für die die bürgerliche Gesellschaft nicht das letzte Wort der Geschichte ist. Ihre bescheidene Regierungs- und Tolerierungspraxis beweist jedoch, daß sie sich der Verantwortung für das Bestehende nicht entziehen will. Ein Empfangskomitee, das die PDS in den Arm nimmt, wenn sie in der Bundesrepublik ankommt, ist nicht vonnöten. Sie ist schon längst in der Neuen Mitte eingetroffen.


 
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