© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
Zeitschriftenkritik: Mittelweg 36
Zerrissenheiten
Werner Olles

Im 10. Jahrgang erscheint zweimonatlich die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36. Vom milliardenschweren Tabakerben Jan Philip Reemtsma gegründet und finanziert, haben das Institut und die Zeitschrift mehrere Arbeitsschwerpunkte wie die "Geschichte der philosophischen Vernunftkritik" und der mit ihr einhergehenden "Entmächtigung des Ichs" oder "Soziale Prozesse in Zeiten des Wandels". Andere Themen lauten: "Amerikanische Reaktionen auf Kriegsverbrechen in Vietnam", "Schlachtfeldforschung. Die Soziologie im Krieg", "Rache ohne Regeln. Zur Renaissance eines archaischen Gewaltarchivs", "Die Historisierung der Bonner Republik. Zeitgeschichtsschreibung in zeitdiagnostischer Absicht", "Ethnische Erweckungen. Zum Funktionswandel von Ethnizität in modernen Gesellschaften", "Die Gewalt spricht nicht. Zum Verhältnis von Macht und Gewalt" oder "Am Ende der großen Kriegserzählungen? Zur Genealogie der humanitären Intervention".

Mittelweg 36 präsentiert in der Regel detaillierte Analysen, auch wenn einem die paradigmatischen Ausprägungen politisch nicht immer behagen. Was die Texte so lesenswert macht, ist dabei weniger eine gesellschaftskritische Sicht der Postmoderne, in der das ethische Monopol des Staates gebrochen ist und die Menschen vor der Wahl zwischen den verschiedenartigsten Angeboten auf dem Markt stehen, als vielmehr die Beleuchtung der Krise der Politik, der Situation der moralischen Ambivalenz im Zeitalter des Abschieds von den Prinzipien, die Kennzeichnung der Zerrissenheit des gesellschaftichen Kontexts und divergierender Lebensinteressen, die das fragmentarische Leben des modernen Menschen unter so verschiedenen Aspekten wie den Formen des Zusammenseins, dem Bild des Fremden, der Rolle der Gewalt und postmoderner Ängste problematisieren.

Thema der letzten Ausgabe war die "Dissidenz im Projektionsrahmen konträrer Systeme". Von der "Inneren Emigration" während der Zeit des Nationalsozialismus über die Haltung einer radikalen existenzialistischen Kulturkritik der fünfziger Jahre bis zum radikalen Kämpfer hat es kaum Ansätze gegeben, das Phänomen der Dissidenz wissenschaftlich zu begreifen. Als mediale Gestalt stand der Dissident in den Jahren zwischen 1968 und 1989 in der Blüte seines Lebens. "Heute sind die in dieser Zeit entdeckten und gefeierten Dissidenten aus dem politischen Nahbereich verschwunden" heißt es weiter, und so ist es auch nicht mehr möglich, eine allgemeingültige Definition von Dissidenz zu geben. So schrumpft der Dissident im eigenen Land sehr schnell zum Querulanten.

In den Ländern des Ostblocks kultur-und nationalrevolutionär und daher in wesentlichen Zügen antitotalitär, war die Dissidenz im Westen sehr oft nur ein pubertäres Aufbegehren gegen die eigene Herkunft. Deutlich sichtbar wurde der differenzierte Hintergrund von Dissidenz 1968 in den Ost-West-Grenzgängern Rudi Dutschke und Bernd Rabehl.

Anschrift: Interabo Betreuungs GmbH, Postfach 360520, 10975 Berlin. Einzelpreis 18 Mark, im Abo 16 Mark.


 
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