© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
Wo die Schmetterlinge schreien
Zwischen Mythos und Markt: Dreißig Jahre nach seinem frühen Tod ist Jim Morrison quicklebendig
Silke Lührmann

Only the good die young" gehört zu den haltbarsten Mythen der Populärkultur. Wenn nur die Guten jung sterben, müssen im Zirkelschluß alle, die jung sterben, gut gewesen sein. "Gut" kann dann nicht mehr als moralische Wertung gedacht werden. In der Nachfolge der messianischen Lichtgestalten anderer Jahrtausende lassen sich zwar die Brüder Kennedy noch als Märtyrer verkaufen, Marilyn Monroe als mißverstandene Madonna und James Dean als einfach nur Mißverstandener. Die jung Gestorbenen der siebziger Jahre, die Janis Joplins und Jimi Hendrixs und Jim Morrisons, waren weniger schuldlose Opfer ihrer selbst. Sie waren lediglich die berühmtesten unter den unzähligen Drogentoten jener Zeit, angesichts derer sich der durch seine Augenzeugenberichte aus Vietnam – 1974 als "Dispatches" ("Depeschen") in Buchform erschienen – berühmt gewordene amerikanische Journalist Michael Herr zu der Behauptung verstieg, es falle zunehmend schwer, die Versehrten des Krieges von denen des Rock’n’Roll zu unterscheiden.

Sie krepierten am "System", so will es der Mythos, und bewahrten sich dadurch eine unvergängliche Würde, noch wenn ihr Ende würdelos und elend war. Denn während Bob Dylan und die Rolling Stones dazu verdammt scheinen, bis in alle Ewigkeit als Untote durch den internationalen Veranstaltungskalender zu spuken, und die Spencer Davis Group inzwischen bei Karstadt in Berlin-Kreuzberg aufspielt, ruht Jim Morrison in illustrer Nachbarschaft auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise und freut sich der Gelage, die allnächtlich zu seinen Ehren stattfinden. Nicht zuletzt verdankt er seinen Nachruhm dem verkitschten Tod, den ein aufgequollener Val Kilmer in Oliver Stones Film "The Doors" (1991) für ihn starb: Die Platten der Doors verkauften sich in den Neunzigern besser als zu Morrisons Lebzeiten, der Devotionalienhandel erhielt kräftigen Auftrieb. Das 1967 entstandene "Adonis"-Porträt von Joel Brodsky (das auch als Vorlage für das Poster des "Doors"-Films herhalten mußte) ziert als ikonischer Zwilling Che Guevaras noch heute die Wand jedes Möchtegern- und Wochenend-Hippies, der etwas auf seinen Weltschmerz hält.

James Douglas Morrison wurde am 8. Dezember 1943 in Melbourne im US-Bundesstaat Florida geboren und starb am 3. Juli 1971 in Paris – an einem Herzinfarkt, wie auf seinem Totenschein steht; in Wahrheit aber wohl an einem Cocktail aus Alkohol und Heroin, das er irrtümlich für das vergleichsweise harmlosere Kokain hielt, wie die Filmemacherin Agnès Varda und der Fotograf Alan Ronay zwanzig Jahre später der Zeitschrift Paris Match als Augenzeugen gestanden. Sein Dämon, um mit dem Mythos zu sprechen, war der Alkohol, die schwarze Poesie sein Exorzismus, seine Rastlosigkeit in der katastrophischen Topographie des amerikanischen Westens beheimatet. Wie andere vor (und nach) ihm, die in der Wüste die Wahrheit suchten, sah sich Morrison von fatamorganischen Visionen geblendet. Stones Film beginnt mit einer überlieferten Szene, in der der vierjährige Jim auf einer Autofahrt nach Santa Fe zuschaut, wie am Straßenrand neben einem umgestürzten Lastwagen Pueblo-Indianer im Sterben liegen. Damals sei eine indianische Seele in ihn gezogen, erzählte Morrison. Mit seinem Vater, der später zum jüngsten Admiral der amerikanischen Marine ernannt wurde, hatte er ab 1964 keinen Kontakt mehr und behauptete in der offiziellen Doors-Biographie gar, seine Eltern wären tot.

Wie schon Walter Benjamin wußte, wird ein Mann, der mit 35 starb, im Bewußtsein der Mit- und Nachwelt immer als jemand gelebt haben, der mit 35 sterben sollte. "Die Kerze von beiden Enden abbrennen", nennt das der Mythos. In siebenundzwanzigeinhalb Jahren vergeudete Morrison wenig Zeit mit Lohnarbeit, um so mehr auf Projekte, deren Verwirklichung zumeist alle Erwartungen enttäuschte. Galten seine College-Aufsätze noch als vielversprechend und brillant, so verwendete er an der Filmschule der University of Los Angeles seine beträchtliche geistige Energie darauf, Dozenten und Kommilitonen zu provozieren – darunter Stanley Kramer, Jean Renoir, Josef von Starnberg und der Student Francis Ford Coppola, der 1979 das Bombenspektakel in "Apocalypse Now" mit Morrisons "The End" unterlegte. Die Filme, die Morrison später mit seiner Produktionsfirma HiWay doch noch drehte, erhielten vernichtende Rezensionen. "Eine enttäuschende Zeitverschwendung", nannte die Filmzeitschrift Variety "Feast of Friends" (1969), und der Rolling Stone schrieb: "dumm, sentimental, unerträglich langweilig, alles in allem der abgebrochene Versuch eines Amateurfilmers".

Während die Beatniks und später die Blumenkinder in San Francisco einfielen, um sich selbst zu finden, galt die "city of quartz" Los Angeles schon damals als überdimensionale Projektionsfläche, als Ort der Selbsterfindung. Diese Kunst beherrschte Morrison wie ein Profi. So demokratisch er allerdings das Urheberrecht für seine Texte zumeist handhabte, so fest wollte er die Kontrolle über das Markenzeichen "Jim Morrison" behalten. Als seine Plattenfirma Elektra ihn 1970 bei der Werbekampagne für die LP "Morrison Hotel" als Renaissance-Mann vermarkten wollte – "Es gibt noch keine Leonardos in der Szene, und dieses Image wird auf dem Land gut ankommen" –, verweigerte er sich glatt.

Eine Band namens The Doors – nach einer Textzeile William Blakes über die "Pforten der Wahrnehmung", die auch Aldous Huxley als Titel seiner Expeditionen ins Reich der chemischen Träume diente – wollte Morrison gründen, lange bevor er die geeigneten Musiker gefunden hatte. Die Gelegenheit ergab sich, als er im Aussteigermilieu der heruntergekommenen Strandsiedlung Venice, eines Vororts von Los Angeles, seinen alten Studienfreund Ray Manzarek wiedertraf. Zunächst mit Rays Brüdern, später mit dem Jazz-Schlagzeuger John Densmore und dem Gitarristen Robby Krieger traten die beiden in verschiedenen Clubs in Los Angeles auf, verursachten wiederholt Krawalle und Hausverweise und konnten dennoch im Herbst 1966 ihren ersten Plattenvertrag unterzeichnen. Auf der Bühne gab sich der Exhibitionist Morrison anfangs schüchtern und gehemmt – er sang mit brüchiger Stimme, dem Publikum den Rücken zugewandt. Der Rest, wie die Amerikaner sagen, ist Geschichte: die Single "Light My Fire", die wochenlang an der Spitze der Charts stand und nur zensiert gespielt werden durfte; die Verhaftung wegen Ruhestörung nach einem Konzert in New Haven; der Fernsehboykott des Antikriegsliedes "The Unknown Soldier"; die zerschlagenen Tonstudios; der Prozeß wegen Belästigung einer Stewardeß; schließlich die Verurteilung wegen Obszönität nach einem Konzert 1969 in Miami, bei dem sich Morrison angeblich öffentlich entblößte – oder war es doch nur eine Massenhalluzination? Der erotische Terrorist, der "Spion im Haus der Liebe" begehrte das Leben durch die kompromißlosen Augen eines Kindes: "We want the world and we want it now!" Und was für eine Welt, in der Gier und Begierde eins sind, so böse und so sinnlich, daß in ihr sogar die Schmetterlinge schreien!

Seine dauerhafteste Beziehung unterhielt er zu der heroinsüchtigen Pamela Courson, die 1974 selber an einer Überdosis starb und posthum als seine offizielle Ehefrau anerkannt wurde. Im März 1971 begleitete sie seinen Rückzug nach Paris, pendelte aber ihrerseits zwischen Morrison und einem französischen Grafen. Der ehrgeizigen Rockjournalistin Patricia Kennealy gelang es ein Jahr vor seinem Tod immerhin, ihn zu einer "Hexenhochzeit" zu bewegen, die sich nicht körperlicher Treue, sondern zeremonieller Ekstase hingab. Genauso promiskuös und ausschweifend wie sein Sexualleben waren seine künstlerischen Einflüsse: Jack Kerouac, Friedrich Nietzsche, C. G. Jung, die französischen Symbolisten und Existenzialisten, Malerei von Hieronymus Bosch bis Willem de Kooning, Antonin Artauds "Theater der Grausamkeit" ...

Nebenbei nahmen die Doors sechs erfolgreiche Alben auf: "The Doors" (1967), "People Are Strange" (1967), "Waiting For The Sun", "The Soft Parade" (1969), "Morrison Hotel" (1970) und "L.A. Woman" (1971). Auf der anderen Seite des Kontinents, in New York, leuchtete Lou Reeds Velvet Underground die dunklen Winkel des Daseins weniger aus, als sie in noch tiefere Nacht zu tauchen; die Doors warfen neongrelle Schlaglichter und erzeugten ähnliche Effekte. Als manche noch von der Liebe träumten und sangen, die die Welt heilen sollte, war Morrisons Musik von den seltsamen Kreaturen der Lust bevölkert, seine Ordnung die Entropie. In der gleißenden Hitze dieses von allen guten Geistern verlassenen wüsten Landes gedeihen nur Schlangen, Eidechsen, Schamanen, kaltblütige Killer. Die Götter – wie die Guten – sind längst ausgestorben, aber die Leere, die sie hinterließen, hat tiefere Spuren in das Gedächtnis des Abendlandes und die Traumatik der Neuen Welt gefräst als jeder Dinosaurier. Seine Gedichte (von Morrison im Selbstverlag veröffentlichte und 1987 als "The Lords And The New Creatures" im renommierten Haus Simon&Schuster erschienen) und Lieder enthalten vulgäres Ödipalkauderwelsch, aber auch Zeilen von düsterster Eindringlichkeit wie eben jene über den Schrei des Schmetterlings. "Mutter Erde" wird zu unserer Schwester, aber das kann sie nicht mehr retten vor der Schändung durch ihren Bruder, den Menschen; wie alle Tabus ist das Inzestverbot verwirkt.

Noch kultiger als der frühe Tod der Guten ist das Gerücht von ihrer Unsterblichkeit. Morrisons frühes musikalisches Vorbild Elvis Presley wird regelmäßig als Kellnerin gesichtet. In demselben staubigen Nest, wo er den Stammgästen und Fernfahrern Kaffee nachschenkt und über die gute alte Zeit philosophiert, regelt wohl Jim Morrison an der einzigen Kreuzung den Verkehr. Der Mythos lebt, und der Markt blüht.


 
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