© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/01 29. Juni 2001

 
Der Verfall der Massengesellschaft
Vom Festhalten an Althergebrachtem und dem Unwillen zur Veränderung
Werner Olles

Der österreichische Schriftsteller und Kulturkritiker Karl Kraus hat in seiner Zeitschrift Die Fak-kel einmal den schönen Satz geschrieben: "Lassen Sie mir meine Überzeugungen und verwirren Sie mich nicht mit Tatsachen." Aber es stimmt natürlich: In allen religiösen und politischen Ideologien kann man Spaltungsprozesse diagnostizieren, es gibt die Krise der Linken, während die Rechte zumindest in Deutschland nicht einmal das Format hat, eine Krise auszubilden, weil sie weder als Intellektualismus, als Populismus noch als Terrorismus existent ist. Die katholische Kirche reformiert sich zu Tode, die Gewerkschaften haben die Funktion von Versicherungsinstituten angenommen, Staat und Parteien simulieren Politik, man könnte diese Aufzählung endlos fortsetzen.

Dieser Utilitarismus hat aber auch sehr viel damit zu tun, daß im Zeitalter der Virtualität die Idolatrie zum Regelfall geworden ist, denn die Dauerparole der Simulationstheoretiker lautet ja, es gibt keine Unterschiede mehr zwischen richtig und falsch. Das wäre dann als "aufgeklärte Idolatrie" im Sinne Baudrillards zu verstehen.

Dafür stehen exemplarisch die Grünen, die der demokratische Kommunist und spätere Grüne Rudolf Bahro einmal folgendermaßen klassifiziert hat: "Die psychisch korrupteste Klasse der Metropolis ist die intellektuelle Alternativ-Bourgeoisie, deren einziges Interesse die Expansion des eigenen Lebensstils ist." Man hat nämlich den Bruch mit der Tradition selbst da gesucht, wo man nicht wußte, wie man das Alte ersetzen sollte. Das ist aber die entscheidende Voraussetzung für jede aktuelle, analytische Gesellschaftskritik. Nachdem nun die erweiterte Bundesrepublik endgültig der Staat der Achtundsechziger geworden ist – und damit auch zum verlogensten und heuchlerischsten Staat aufgestiegen ist, der jemals auf deutschem Boden existierte –, ist jetzt endlich auch die revolutionäre Maske gefallen und mit ihr auch die großen und schönen Ideale und Visionen.

Niemand denkt ernsthaft daran, die Systemfrage zu stellen

Wer heute eine gesellschaftverändernde Perspektive einnehmen will, muß daher die Ideologieproduktionsstätten und Sozialisationsagenturen dieser Gesellschaft ins Visier nehmen, die beständig Reklame für die Welt machen, wie sie ist. Eine radikale Linke, die von Marx zuerst auf Marcuse und schließlich auf Habermas und die Nato gekommen ist, ist jedoch kaum noch in der Lage, die verschiedenen theoretischen und politischen Perspektiven zu beleuchten, wie sich aktuelle Herrschaftverhältnisse in den Köpfen der Menschen niederschlagen. Sie ist vollauf mit dem Problemfeld ihrer eigenen Subjektivität beschäftigt und findet sich dabei auch noch ganz toll. Und die "Rechte", die sich in behaglicher Skepsis ergeht, frönt zunehmend jener blanken Wahnvorstellung, daß die Deutschen, die sich völlig freiwillig der Willkürherrschaft des neuen, sanften Totalitarismus ausgeliefert haben, durch ein – von wem auch immer verhängtes und wie auch immer geartetes – "Strafgericht" von ihrem liberalistischen Sündenfall zu kurieren wären. Unrealistischer, unpolitischer und dümmer war die Rechte hierzulande noch nie!

Zentral vorherrschendes Ideologem ist jedoch das Paradigma der "Postpolitik", denn niemand denkt mehr ernsthaft daran, die Systemfrage zu stellen. Diese Ideologie der Entideologisierung und Entpolitisierung des Politischen funktioniert heute gerade deswegen so perfekt, weil sie hochgradig modernefähig ist und zudem einen virtuellen Kulturkampfschauplatz eröffnet, auf dem dann zwar keine wirklichen Auseinandersetzungen mehr ausgetragen, sondern den eigenen Anhängern alle möglichen Formen von Placebos verabreicht werden und der Gegner kriminalisiert oder zumindest dämonisiert wird.

Ein sehr schönes Beispiel dafür ist der zur Zeit in Deutschland stattfindende "Aufstand der Anständigen", bei dem von den Kirchen, den Gewerkschaften, Unternehmerverbänden, sämtlichen staatstragenden Parteien und Gutmenschen verschiedener politischer Couleur ein trauriges Häuflein sogenannter "Neo-Nazis" – die in einem einigermaßen normalen Staat allein dank ihrer zahlenmäßigen Schwäche und ihres gegen Null tendierenden Einflusses gar nicht wahrgenommen würden – diabolisiert und ausgegrenzt wird. Die Ironie daran ist, daß sich sowohl die Ausgegrenzten als auch die "Anständigen" dabei als todesmutige Widerstandskämpfer vorkommen. Aber das ist genau die Art, in der heutzutage Ideologie als Selbstbefriedigungsmaschinerie funktioniert. Man ist Börsenmakler, verdient 20.000 Mark im Monat, fühlt sich aber irgendwie als "Linker" und empfindet den arbeitslosen Skinhead, der einen harmlosen Ausländer verprügelt, als "faschistische Bestie".

Es gibt wahrlich genügend Momente, die den Aufstand gegen das System der Technokratie zwingend machen. Und natürlich ist dieses System einerseits sehr schwach, aber solange die große Koalition aus Christ- und Sozialtechnokraten, Ideologiekritikern und technokratischen Linken und Rechten, ideologisch und moralisch gestützt von den verkommenen Erben der Kritischen Theorie ihre Vernunftherrschaft als grenz- und lagerüberschreitendes politisches Evangelium einer "Zivilgesellschaft" oder gar als "Engagement für die Menschenrechte" ausgibt, haben wir im Aufstand gegen diese Technokratie zwar das Paradigma einer längst fälligen Revolte vor uns, wissen aber gleichzeitig, daß dieser Aufstand aus "Feuer und Geist" einstweilen unmöglich ist.

Als Phänomen der Einsicht in die Vernichtung alles natürlichen Lebens auf der Erde durch den Terror der Technokratie kann die Revolte gegen eine Massengesellschaft, die totalitär in einem noch näher zu definierenden Sinne ist, heute nur eine Revolution von rechts sein. Ein Rechter muß das kapitalistische System ablehnen, weil es die permanente Zerstörung bedeutet und unser Land in einem Ausmaße geistig und kulturell verheert hat, das wirklich einmalig und wahrscheinlich nie wieder gutzumachen ist. Die einzige authentische Möglichkeit diese Gesellschaft zu bekämpfen, ist also nach rechts zu gehen, weil die Linke inzwischen zum System dazugehört wie der Deckel zum Topf und der Verfall des Konservativismus offensichtlich ist, wie Ernst Jünger in "Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt" schrieb: "Das Gesicht der späten Demokratie, in das Verrat und Ohnmacht ihre Zeichen gegraben haben, ist allzu bekannt. In diesem Zustand sind alle Mächte der Verwesung, alle abgelebten, fremden und feindlichen Elemente herrlich gediehen; seine Verewigung um jeden Preis ist ihr geheimes Ziel." Jünger schrieb dies vor siebzig Jahren, aber tatsächlich ist seine Erkenntnis heute aktueller denn je.

Einerseits verschärft sich also das Drama des modernen Menschen angesichts des Verfalls von Bindung in den Bereichen Religion, Nation, Heimat und Familie. Die atomisierte Gesellschaft kann ihre Mitglieder nur noch "ruhigstellen" mit immer mehr Freizeit und Urlaub, immer mehr Fernsehen und Konsum, immer mehr Klamauk, Drogen und Sex. Wir haben heute "eine auf vollkommener Vermassung beruhende Individualisierung", wie Günter Maschke zu Recht in einem Interview bemerkt hat.

Das Projekt der Aufklärung ist kläglich gescheitert

Natürlich gibt es immer wieder mal reformistische Theorien, beispielsweise die Idee der Nachbarschaften, in den USA nennt man das "Kommunitarismus". Viel wird auch dabei nicht herauskommen. Oder nehmen wir die Religion, das Christentum, den Katholizismus: Diese Verbindung hat immer existiert, sonst könnten wir ja nicht einmal so denken und fühlen oder aufmerksam sein, wie wir es jetzt sind. Immer, in jeder Zeit gab es eine besondere Pflege dieser Verbindung. Es war religiöser Kultus, oft aber auch einfach nur der der normale Alltag, der sakral war und in dem jede menschliche Verrichtung heilig war.

Es gibt beispielsweise im Alten Testament 613 Regeln für den Alltag, wie man etwas macht. Diese Regeln gab es, damit dem Leben Sinn gegeben wird. Heute haben wir als letzten Rest die Sakramente. Das Tischgebet vor und nach dem Essen ist auch so ein Rest. Aber selbst das ist nur noch selten zu finden und gilt schon als reaktionär oder fundamentalistisch. Wir wissen nicht mehr, wie wir denken, wir wissen nicht mehr, wie wir erinnern, wir wissen nicht, wie wir eine Intuition oder Inspiration erhalten oder wozu Institutionen notwendig sind. Im Grunde haben wir keine blasse Ahnung mehr davon, was überhaupt mit uns passiert.

Das ist so, weil all diese Fähigkeiten überbewußten Ursprungs sind. Das heißt, wir sehen nur noch das Resultat, nicht das Denken, nicht das Wahrnehmen. Das ist die eigentliche Krise des modernen Menschen. Auf der einen Seite bekommt er im Zeitalter der Gen-Manipulation und der Klonung von der herrschenden politiko-kulturellen Klasse ständig bestätigt, welch ein großartiges, einmaliges und einzigartiges Geschöpf er doch ist, auf der anderen Seite erfährt er tagtäglich seine Fremdbestimmung, seine Verlorenheit, seine Einsamkeit und seine völlige Ohnmacht.

Wir müßten also bereit sein zuzugeben, daß das Projekt der Aufklärung auf der ganzen Linie kläglich gescheitert und die moderne Massengesellschaft eindeutig gegen die menschliche Anthropologie gerichtet ist. Da dies aber keiner zu sagen wagt, weil man ja sonst zugeben müßte, daß das ganze menschliche Dasein ein einziges Jammertal ist, ist der Zug wohl einstweilen abgefahren. Man kann sich zwar zum Irrationalismus bekennen und die vom Surrealismus inaugurierte Revolte gegen die Vernunftherrschaft und gegen das technokratische System wieder aufnehmen, aber das ist dann doch mehr Inszenierung, Spiel, Ästhetik. "Wer keine Eroberungen mehr macht, willigt ein, erobert zu werden", schrieb E. M. Cioran.

Man kann den zunehmenden Persönlichkeitsverfall in der metropolitanen Massengesllschaft, den indifferenten Pluralismus der liberalistischen Moderne, die fortwährende Verwandlung von individuellen Charakteren in eine zusammengedrängte, amorphe Masse, ein Gewühl von Menschen mit hektisch-geschäftigen Bewegungen, die epidemische Ausbreitung industriell-reproduzierter anonymer Massengesellschaften, die kulturellen Verheerungen durch eine nachbürgerliche Demokratie und spekulatives Finanzkapital, die Traditionslosigkeit, den zunehmenden Einfluß fremder, zudringlicher Völker, Kulturen und Religionen und eine Welt, die schließlich nur noch nach fremden Gesetzen organisiert ist, beklagen, aber das endet dann alles irgendwann im Ressentiment, in der Depression oder im Drogen- bzw. Alkoholabusus und eben leider nicht in einem starken, autoritativen Staat.

Wir haben den Angriff des Neuen und Fremden auf das bestehende ohnehin inzwischen traditionsarme Europa ohne jede Gegenwehr geschehen lassen und unser europäisches Erbe zugunsten des Versuchs einer Integration der schillernden und fremden Einflüsse aus dem amerikanischen, asiatischen und afrikanischen Raum geopfert und damit bereitwillig den Todeskeim des kulturellen Untergangs in uns aufgenommen. Weil Europa aber heute längst ein dem Tode geweihter, schwindsüchtiger Patient ist, der von seiner Krankheit noch nichts ahnt, auch wenn sich seine inneren Organe – die Metropolen, Städte und Dörfer – bereits teilweise zersetzt haben, die Nationen irreparable Sprünge offenbaren und an ihren hausgemachten Widersprüchen zu zerbersten drohen und sinnstiftende Praktiken durch neue politische Ideen sich bis jetzt regelmäßig als trügerische Hoffnungsprojekte entpuppt haben, bleibt die Rückkehr zur alten Ordnung verstellt.

Rechte Politik muß die Beschleunigung stoppen

Napoleon I. fand auf seinen Reisen "kein gutmütigeres, aber auch kein leichtgläubigeres Volk als das deutsche". "Zwietracht" habe er unter ihnen "nicht zu säen brauchen": "Es genügte, Netze zu spannen, dann liefen sie wie scheues Wild hinein. Untereinander haben sie sich gewürgt und meinten damit ihre Pflicht zu tun. Törichter ist kein anderes Volk der Erde. Keine Lüge kann so grob ersonnen sein, daß die Deutschen sie nicht für glaubwürdig hielten. Um eine Parole, die man ihnen gibt, verfolgen sie ihre Landsleute mit größerer Erbitterung als ihre wirklichen Feinde." Daran hat sich bis heute kein Jota geändert.

Die politische Stabilität eines Staates und einer Nation besteht aber eben auch darin, in der Lage zu sein, sich kulturell, politisch und nötigenfallls auch militärisch gegen das Fremde wehren zu können. Wer aber den diversen ethnischen Interventionen nicht gewachsen ist und das auch gar nicht sein will, der fördert die kulturelle Diversifikation und den Verfall der nationalen Einheit, um sich am Ende in ein amorphes Gebilde zu verwandeln.

Die Frage, welche Form die Dissidenz außerhalb gewisser intellektuell-kulturpessimistischer Strömungen oder sinnloser, zeit- und ressourcenvergeudender "Runder Tische", an denen notorisch erfolglose Querulanten ihre sogenannten Erfahrungen austauschen, annehmen soll oder kann, ist daher sehr schwierig zu beantworten. Ohne Zielutopie wird sie jedenfalls irgendwo zwischen erdenschwerer Bodenhaftung und luftig-romantischer, ewig ins Nirgendwo schweifender Fundamentalopposition pendeln. Wir müßten ja vor allem die Raserei der Technik aufhalten, die die Erde zerstört. Goethe hat einmal gesagt: "Jedes Wachstum der menschlichen Fähigkeiten, das nicht von einem Wachstum seiner Güte begleitet ist, wird den Menschen schlechter machen."

Eine rechte Politik müßte also versuchen, diese irrsinnige Beschleunigung der Welt zu stoppen. Dagegen spricht jedoch, daß viele "Rechte", von den Konservativen ganz zu schweigen, ganz begeistert sind von den Errungenschaften des "linearen Fortschritts", selbst wenn sie gegenüber der Verkommenheit der modernen Gesellschaft immer noch die stärksten Affekte haben. Aber es fehlt – und das rechts wie links – der politische Wille. So wird vermutlich noch sehr viel Zeit vergehen, bis sich die Nebelschwaden heben und den Blick auf einen neuen Frontverlauf freigeben, bis endlich "die Stunde des Politischen und die Stunde der Nation schlägt", wie Günter Maschke diese von vielen herbeigesehnte Situation einmal bezeichnet hat.

Ob am Beginn dieser Wiedergewinnung der Nation dann tatsächlich wie am Beginn der Nationwerdung notwendigerweise der Bürgerkrieg steht, wird in der Entscheidung einer dafür zuständigen, legitimierten und souveränen Macht liegen, nicht aber in der Hand ressentimentgeladener, politisierender Gartenzwerge. Bis dahin kann es nur darum gehen, auf dem Kulturkampfschauplatz zwischen Destruktion und Dekonstruktion einerseits und einer neuen Ordnung andererseits, den die Achtundsechziger vor mehr als drei Jahrzehnten, nachdem sie dem Konservativismus endgültig den Todesstoß versetzten, eröffnet haben, auch gegen alle Hoffnung zumindest ein wenig intellektuelle Unruhe zu stiften.

 

Werner Olles, 58, war 1968/1969 Mitglied im Frankfurter SDS, bevor er sich Anfang der siebziger Jahre in Splittergruppen der "Neuen Linken" engagierte, darunter dem "Frankfurter Kampfbund/ Marxisten-Leninisten" (FKB/ML). Von 1973 bis 1977 war er Mitglied der Jungsozialisten. Danach kehrte er der Linken den Rücken.

 

"Kreislauf", Gemälde von Helmut Maletzke (1989): "Die atomisierte Gesellschaft kann ihre Mitglieder nur noch ’ruhigstellen‘ mit immer mehr Freizeit und Urlaub, immer mehr Fernsehen und Konsum, immer mehr Klamauk, Drogen und Sex."


 
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