© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/01 22. Juni 2001

 
Jahrmarkt der Beliebigkeiten
Evangelischer Kirchentag: Wohlfeile Phrasen und eine verwirrende religiöse Botschaft
Eckhard Nickig

E indrucksvoller hätte die Symbolik für die Schieflage des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Frankfurt am Main nicht sein können: Während draußen bereits die Abräumkommandos tätig waren, fand noch eine kleine Veranstaltung statt – ein "Gesprächskonzert" zum 17. Juni 1953. Es war die einzige Veranstaltung, die sich – nur zehn Jahre nach der Wiedervereinigung – überhaupt mit der SED-Diktatur auseinandersetzte, sieht man einmal von einer Ausstellung in der Paulskirche ab. Da der Liedermacher Wolf Biermann krankheitsbedingt absagte, kamen noch weniger, um mit Zeitzeugen zu diskutieren wie der Berliner Pfarrerin Annemarie Schönherr, die als 16jährige direkt nach dem Krieg in der Sowjetischen Besatzungszone verhaftet worden war. Sie wurde mit 18 anderen Mädchen wegen des Beitritts zu einer westorientierten Partei in eine Zelle gesperrt, jahrelang gefoltert und gequält: "Nachts wurde ich mit einer Hundeleine ausgepeitscht." Der Kirchentag war im 40. Jahr des Mauerbaus an der zweiten deutschen Diktatur im 20. Jahrhundert nicht interessiert.

Das Thema war den Verantwortlichen wohl auch zu peinlich, hätte sich das Protestantentreffen doch dann auch mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen müssen: Allzu oft waren die Ansagen des Kirchentages mehr als fragwürdig. So in den achtziger Jahren bei der Beschönigung des Sowjetkommunismus und der Wahrnehmung von Menschenrechtsverletzungen – nur im Westen und fast nur in Südafrika und Chile –, der einseitigen Anti-Nachrüstungsdebatte und beim Kirchentag im Juni 1989 in West-Berlin schließlich bei dem vielen Gefasel davon, man sollte endlich aufhören, von der Wiedervereinigung zu reden. Was wäre passiert, wenn die Bürgerrechtler in der DDR und dann Helmut Kohl den Wünschen prominenter Kirchenleute gefolgt wären?

Während man die SED-Vergangenheit links liegenließ, gab es frenetischen Beifall, wo immer Politiker der SED-Fortsetzungspartei PDS auftauchten. Die PDS, die im Verfassungsschutzbericht des Bundes als linksextrem eingestuft wird, war in Frankfurt präsent wie nie. Der Berliner Regierungswechsel hatte sie noch interessanter gemacht. Gregor Gysi kokettierte einmal mehr geschickt mit seinem Status als "Heide", wie er es schon seit Jahren auf Kirchenveranstaltungen tut. Die PDS wurde so zum heimlichen Star des Kirchentages. Nur Jubel gab es für eine Partei, die kurz zuvor noch den Bau der Mauer verteidigt hatte. Wo blieben die kritischen Stimmen?

Der Frankfurter Kirchentag mit seinen 100.000 Dauerteilnehmern hatte keine politische und eine äußerst diffuse religiöse Botschaft. Auf den weißen Kirchentagsschals hieß es diesmal "Kirchentag gegen Gewalt". Wer kann dazu schon Nein sagen? Viele politische Diskussionen waren steril. Für spannende Kontroversen fehlten die profilierten Gegner der eingespielten Kirchentagsdogmatik bei den Reizthemen. Zum Thema Einwanderung etwa gab es eine zentrale Diskussionsveranstaltung, die schon im Titel signalisierte, daß Widerspruch unerwünscht war: "Bitte einwandern!" Das Podium war ausschließlich mit Einwanderungsbefürwortern besetzt – von Rita Süssmuth (CDU) bis zum Multi-Kulti-Dogmatiker Oberkirchenrat a.D. Jürgen Micksch.

Man schimpfte auf die "schlimmen Populisten" aus CDU und CSU. Auf den Gedanken, mit diesen Politikern selbst zu diskutieren, kommt auf dem Kirchentag niemand mehr. Man bleibt unter sich wie in einer Dunstglocke, die schon lange kein frischer Wind mehr aufwirbelt. Am Ende stimmten die 1.500 Zuhörer einer Resolution zu, daß Parteien mit "fremdenfeindlichen Äußerungen" die Wahlkampfkostenerstattung entzogen werde soll. Nur zwei Gegenstimmen gab es, so daß selbst die Forumsleiterin "sowjetische Verhältnisse" feststellen mußte. Kein einziger Teilnehmer wies darauf hin, was es bedeutet, wenn man weiterhin Hunderttausende Moslems einwandern läßt – darunter Extremisten, die vorhaben, Deutschland in einen islamischen Staat zu verwandeln.

Um die Podien nicht völlig einseitig zu besetzen, wurden vorzugsweise solche Unionspolitiker eingeladen, die die eigene Partei von links kritisieren, wie Rita Süssmuth und Norbert Blüm. Auch Heiner Geißler kam, um seine Abneigung gegen deutschen Nationalstolz kundzutun. Daß ihm später ein polnischer Philosoph widersprach ("Seid ruhig stolz, Deutsche zu sein"), war immerhin ein unvorhersehbarer Lichtblick zum Kirchentagseinerlei. Profilierte konservative Protestanten wie die Innenminister Günther Beckstein (Bayern) und Jörg Schönbohm (Brandenburg) oder einen der bekanntesten Kolumnisten und CSU-Politiker, Peter Gauweiler, sucht man hier vergebens. Hingegen wurde Kanzler Gerhard Schröder wie ein Showstar gefeiert, gaben sich andere SPD-Größen wie Wolfgang Thierse, Hans Eichel, Edelgard Bulmahn die Klinke in die Hand. Früher wurden beim Kirchentag Andersdenkende – Konservative, Soldaten, Menschenrechtler und Abtreibungsgegner – nicht selten niedergeschrieen oder sogar mit Gewalt vertrieben. Heute setzt man sich mit ihnen gar nicht mehr auseinander.

Zu tief hat man sich über Jahrzehnte in ein Milieu eingegraben, das Andersdenkende nur noch als Störenfriede wahrnimmt. Zu schön ist doch die "politisch korrekte" Harmonie der Gleichgesinnten auf den Papphockern. Nur sollte man dann auch so ehrlich sein und nicht ständig so tun, als gäbe es in ganz Deutschland kein offeneres, streitbareres Diskussionsforum. Der politische Kirchentag als "Zeitansage" scheint am Ende seiner Kraft.

Das gilt auch für die religiöse Botschaft des Protestantentreffens. Man konnte dort Christ werden – aber auch Moslem, Buddhist oder Heide. Die nichtchristlichen Gurus nutzen den "Markt der Möglichkeiten" vielfach besser zum Werben für ihren Glauben und ihre Lebensart als die Christen. Daß die Kirchentagsleiter dem christlich-missionarischen Auftrag so verhalten gegenüberstehen, verwundert, denn nicht nur der EKD-Ratsvorsitzende, Präses Manfred Kock, bemerkte ein stärkeres Suchen nach Gott. Auch Kirchentagspräsident Martin Dolde rühmte, daß "Glaube" nicht hinter den – vermeintlich aktuelleren – Themen "Geld" und "Gentechnik" zurückstand.

In der Tat: Der Kirchentag ist geistlicher geworden als in den siebziger und achtziger Jahren. Die Bibelarbeiten, der Gebetsgarten, das Forum "Brennpunkt Gemeinde" waren oft überfüllt: ein Zeichen dafür, wie stark viele die Kopflastigkeit und Selbstsäkularisierung der evangelischen Kirche empfinden.

Aber erhielten die Kirchentagsbesucher eine eindeutige Antwort auf die, so Kirchentagspräsident Dolde, elementare Frage: "Was ist ein Christ?" Mit seinem multireligiösen Angebot sandte der Kirchentag verwirrende Signale aus. So warb der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh – von Generalsekretärin Friederike Woldt als ein "Höhepunkt" des Treffens gerühmt: "Lebe im Hier und Jetzt, dann bist du im Reich Gottes". Die Darmstädter Künstlerin Annegret Soltau verkündete: "Ich blute, also bin ich." Zum Heidentum bekehrte Frauen hatten ebenfalls ihren Auftritt, etwa die ehemalige evangelische Theologin Ziriah Vogt – heute Tarot-Beraterin. "Katholische Hexen" sind nach Ansicht der Professorin für Feministische Theologie, Hedwig Meyer-Wilmes, "normal". Fazit: Der Kirchentag ist in der Tat religiöser geworden. Doch vom Anspruch seines Adjektivs "evangelisch" – das heißt "dem Evangelium gemäß" – ist er noch weit entfernt.


 
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