© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/01 22. Juni 2001

 
Wieder alles falsch
Deutschland ist bildungspolitisch im Rückstand
Angelika Willig

Man hört schon gar nicht mehr hin. Da stellt Bundesministerin Edelgard Bulmahn eine OECD-Studie vor, nach der es in Deutschland viel zu wenig Hochschulabsolventen gibt und zu wenig Geld für die Bildung. 28 Prozent eines Jahrgangs nehmen hierzulande ein Studium auf, berichtet die internationale Organisation, im Durchschnitt aller Mitgliedsländer sind es 45Prozent. Bei den Bildungsausgaben liegen wir mit 5,5 Prozent des Bruttosozialprodukts unterhalb des Durchschnitts, Dänemark wie die USA liegen weit darüber. Bulmahn weist mit Nachdruck darauf hin, daß "die Anstrengungen der letzten beiden Jahre", insbesondere die neue BAFöG-Reform, sich in dem niederschmetternden Bericht noch nicht ausgewirkt hätten. Die GEW wittert Morgenluft und fordert "deutlich mehr Geld" für den pädagogischen Nachwuchs.

Es steht uns also, wieder einmal, eine bildungspolitische Wende bevor. Wieder einmal mehr Geld, mehr Hochschulen und mehr Studenten, wie es Georg Picht Mitte der sechziger Jahre gefordert hatte. Damals, als die Seminare noch schön klein, die Professoren ehrwürdig und die Studenten ordentlich gekleidet waren, rief der Religionswissenschaftler in der Zeitung Christ und Welt die "Bildungskatastrophe" aus und forderte schleunigst eine Durchakademisierung – wie sie angeblich in den Vereinigten Staaten und anderen fortschrittlichen Ländern längst eingetreten sei. Er vergaß zu bemerken, daß Studium nicht gleich Studium ist. In den angelsächsischen Ländern gibt es ein etwa zweijähriges Grundstudium und danach eine strenge Auswahl, wer weitermachen darf und die akademische Elite stellt. Die große Hochschulreform der siebziger Jahre übertrug die moderne Massenbildung auf ein elitäres Modell, wie es die deutsche Universität aus dem Geiste von Humboldt war. Bald schon stöhnte man unter "Anonymität", Niveauverlust, langen Studienzeiten, Lehrerschwemme, Akademikerarbeitslosigkeit. Dann folgte das radikale Umschwenken mit Kürzungen und Schließungen, mit ausgesetzten Berufungen und der steten Warnung, nur ja keinen akademischen Beruf anzustreben. "Am besten werden Sie Klempner!"

Und nun wird uns die Bildung als eben entdeckter "Standortfaktor" präsentiert, als "Zukunfsinvestition", die nicht Geld kosten, sondern Geld bringen soll. "Hoher Bildungsstand ist die Voraussetzung für gesellschaftlichen Wohlstand", heißt es in dem OECD-Papier. Man rechnet uns vor, daß allein die demographische Entwicklung eine steigende Anzahl von Hochschulabsolventen erfordere, ganz zu schweigen vom Bedarf der Industrie an Fachleuten.

Ist dieses Hin und Her in der deutschen Bildungspolitik normal und hängt nur mit wechselnden Regierungen zusammen? Keineswegs. Es ist ein chronischer Bildungswahn, an dem wir Deutschen leiden, und der sich bei allen klugen Berechnungen immer wieder einschleicht. Dieser Wahn besteht darin, alles zu verwissenschaftlichen, zu verkomplizieren und zu "verunendlichen", wie man es schon an den 600 Seiten vieler heutiger Dissertationen sieht. "Fertig werden!" mahnte Nietzsche, der bekanntlich selbst nicht fertig wurde. "Fertig werden" könnte die Möglichkeit bedeuten, das Studium nach vier Semestern mit einem Abschluß zu beenden. Fertig werden hieße auch, auf die zeitraubende Habilitation zu verzichten (die es nur in Deutschland gibt). Fertig werden heißt auch, einen schwierigen Stoff wie die Philosophie des 19. Jahrhunderts in wenigen Lehrbuchkapiteln abprüfbar zu präsentieren (wofür die Franzosen berühmt sind). Fertig werden heißt vor allem: verständlich erklären. Gerade in den Naturwissenschaften hängt von den ersten Stunden an alles vom Lehrer ab, später von den Büchern. Mancher hat erst in den höheren Semestern beim zwangsläufigen Umsteigen auf englische Fachbücher erfahren, wie einfach sich Dinge darstellen lassen, wenn ein Autor vom Interesse des Lesers ausgeht und nicht wie der Deutsche vom "Wesen der Sache selbst". Zu diesem Zeitpunkt sind dringend gebrauchte Techniker und Ingenieure, die zwar nie den Nobelpreis erhalten, aber ihre Aufgabe erfüllt hätten, frustriert abgesprungen.Ein hohes Ideal ist auch die Verbindung von Forschung und Lehre. Doch die Realität sieht so aus, daß forschende Professoren kein Interesse an der Lehre haben, schon gar nicht mit mittelmäßigen Studenten, und ihre Lehrverpflichtungen sehr lustlos erfüllen.

Der schwierige Weg, so glauben die Deutschen, ist immer der bessere Weg. Dieser edle Grundsatz führt auch zur Ablehnung von Kursen in creative writing, wo junge Leute das literarische Schreiben üben. In Deutschland versteckt sich der angehende Schriftsteller erst einmal fünf Jahre an der Universität, um die Geschichten zu analysieren, die er eigentlich schreiben wollte. Danach fährt er Pakete aus und verschickt still und heimlich eigenbrötlerische Manuskript, die auf den ersten Blick die Unprofessionalität verraten.

Das heimliche Ideal der deutschen Bildung ist das Scheitern, die sokratische Weisheit des "Ich weiß, daß ich nichts weiß". Es ist das Gegenteil von der zielgerichten Ausbildung, die dem Markt "hochqualifiziert Fachkräfte" liefert wie vom Fließband. Also doch stolz sein auf die Tugend des Taugenichts? Stolz schon, aber einstellen tut man doch lieber einen anglifizierten Inder.


 
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