© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001

 
Musikfestival: Eine Nachlese zum 10. Wave-Gotik-Treffen in Leipzig
Kultivierte Todesnähe
(JF)

Annäherung von Norden. Die Raststätten auf dem Weg weisen zunehmend schwarzgekleidete Personen auf. In den überholten Fahrzeugen sitzen sie immer öfter hinter dem Steuer. Aus dem Leipziger Hauptbahnhof quillt es schwarz aus dem Ausgang und überströmt die bereitstehenden Straßenbahnen. Ruhe, Gleichmäßigkeit, aber auch Unaufhaltsamkeit. Es ist Pfingsten, das 10. Wave-Gotik-Treffen hat begonnen.

17.000 Menschen verschmelzen in diesen Tagen zu einer europäischen Schicksalsgemeinschaft. Die Stadt der Völkerschlacht vom Oktober 1813 bietet das ideale Terrain. Hier wurde der erste neuzeitliche Despot in einem gemeinsamen Kraftakt vernichtend geschlagen, und auch die Teilung Europas wurde hier durch die Montagsdemonstrationen 1989 beendet. Nie war die Stadt ein Machtzentrum Deutschlands; sie ist keine mondäne Perle wie Dresden. Unfertig, zeitlos schön.

Das Festival ist dezentralisiert auf das ganze Stadtgebiet verteilt. Es in seiner Vielfalt zu erleben ist keine leichte Aufgabe. Letztlich müssen Schwerpunkte gesetzt werden. Begrüßung am Freitag auf dem Agra-Messegelände durch das Ensemble Blutengel, das erstmals seine Bühnenqualitäten unter Beweis stellt. Christian Pohl, Gründer des Projektes, umgeben von Frauen. Eindrucksvolle Tänze, Spiel mit Feuer, Blut und Körpern. Liebe, Tod, Zerstörung als Angelpunkt der Musik und der Welt dahinter. Das Publikum freut sich. Gerade saß man noch am Schreibtisch und war womöglich als Dienstleister ein kleines Zahnrad im Getriebe der monetären Welt. Endlich hier! Freunde werden umarmt, neue Bekanntschaften entstehen im Vorübergehen. Die ganze Nacht bieten Stände Bier, Wein und wohlschmeckende Pfannengerichte an. Das Gelände ist von einer aufgeschlagenen Stadt umringt, einem Gewebe gleich steht Zelt an Zelt. Der Morgen graut, langsam kehrt Ruhe ein.

Samstagvormittags Besuch des "heidnischen Dorfes" am Torhaus Dölitz. Trinkhörner, Schwerter, mittelalterliche Gewänder, Runenamulette werden feilgeboten. Eine wohltuende Stille, laubbaumbeschirmt, umgibt das naturreligiöse Markttreiben.

Sodann Verlegen auf die Parkbühne, Domäne der neo-folkloristischen Gruppen und damit auch der Ansatzpunkt der kulturmafiösen Hebel. Im vergangenen Jahr hatte der geplante Auftritt von unter "Faschismusverdacht" stehenden Gruppen wie Von Thronstahl zu erheblichen Repressionen für das Festival geführt. Dieses Mal gab sich der neue Organisator Sven Borges linientreu: "Wir haben alle Bands von der Stadtverwaltung prüfen lassen."

Neofolker erwarten den Auftritt von Camerata Mediolanense. Schlagwerk und eine geschulte Frauenstimme wachsen zu einem Ganzen: Schwermut mit südlicher Lebensart gepaart. Trotz mäßiger Bühnengestaltung und -inszenierungzeigt sich ein ungeheures Potential – leider ist es taghell. Im Publikum massenweise gescheitelte, hagere Männer in Flecktarnjacken, ein Stil, wie er von Death in June, einer Gruppe mit Kultstatus, geprägt wurde; mehr "ästhetische Mobilmachung" als politische Aussage.

Auch Bewegung und Kraft des Körpers verlangen nach Ausdruck. Am Völkerschlachtdenkmal trommeln unter freiem Himmel ein gutes Dutzend Männer mit freiem Oberkörper auf leere Stahlfässer. "Les Tambours du Bronx" wirkt wie der Tanz der Berserker, kraftvoll – rauschhaft – Selbstzweck. Dann tritt Laibach für die "neue slowenische Kunst" auf den Plan. Milan Frez, wie gewohnt in der Rolle des orthodoxen Popen, beschwört die Massen: "One World – we smash it down!". Doch zur "Geburt einer Nation", Laibachsche Erfolgshymne aus den Achtzigern, reicht der Mut nicht aus. "Life is live", das letzte Lied der Zugabe, versetzt das Völkerschlachtdenkmal in pyrotechnische Flammen. Und selbst der Himmel steht in seinem Bann, als die zum Segen gestreckten Arme des schmächtigen Sängers sinken. Es öffnen sich seine Tore, und ein Wolkenbruch treibt das Publikum auseinander.

Wieder in der Agra-Halle bringen Front 242, die Technopioniere aus Belgien, das Blut zum Kochen. Elektrisierte aufgeladene Stimmung. Entladung und Aufreiben der Kräfte, hier und da einzelne Frauen, die sich in dem Tanzkessel behaupten wollen. Ein Schutzschild aus Recken formiert sich um sie und gibt ihnen kurzzeitig die Illusion einer Beteiligung an der maskulinen Kraftprobe. Plötzlich springt eine detonierende Sequenz der Musik die edlen Ritter an und reißt sie zurück in den Kessel des Kraftaustausches. Hier verschmelzen Kameradschaft und Wettkampf. Die Frauen werden dabei unbeabsichtigt zentrifugiert – in angemessenere Sektoren.

Danach wird unberechenbares und publikumsfeindliches "Industrial" präsentiert. Computerloops in nicht beschreibbarer Lautstärke. Druckwellen mit ständig wachsender Beschleunigung, und kein Ende abzusehen. Jede Bewegung und Kraft erlahmt. Sie wird verschluckt. Der Saal leert sich proportional zur Dauer des Auftritts. Coil ist verantwortlich für diese Art von Tonkunst, zu der es nur zwei extreme Meinungen gibt: Ablehnung oder Begeisterung. Das hält nicht jeder aus: satanistische Gestaltwerdung oder Urknallerlebnis.

Oft wird dieser Szene ein zelebrierter Totenkult unterstellt. Allerdings sind die sichtbaren Symbole des Todes nur Ausdruck der Dranges zur Ganzheitlichkeit. Grufties sind kein "lichtscheues Gesindel". Sie wissen, im Gegensatz zum angepaßten Bürger, daß der Tod ein Teil des Lebens ist. Er darf kein Tabu, sondern kann auch milde sein. Durch Einbeziehung des Todes in das Denken wird der Wert des Lebens überhaupt spürbar. Die Lebenslust ist gerade durch die kultivierte Todesnähe um so größer. Somit ist der Grundton schwarz. Das Schwarze im Innern erfaßt die Trauer über die im Westen untergehende Sonne. Schwarz ist eingewebt in die Verkleidungen.

Daneben kann die Abkehr vom Konsum und Konformismus und die Suche nach wahrhaftigen Wurzeln, nach Heimat als gemeinsamer Nenner betrachtet werden. Jeder nach seiner Fasson. Ermöglicht wird dies durch eine in jedem Punkt spürbare Toleranz. Sie ist unbedingtes Fundament für die Harmonie des Treffens mit seinen 160 Darbietungen. Die "Grufties gegen Rechts" stehen mit ihrem Abgrenzungsprogramm isoliert in der Ecke.


 
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