© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001

 
Pankraz,
Prinz Hamlet und die Mitarbeiter der Stasi

Dieses Jahr ist Hamletjahr. 1601, vor vierhundert Jahren, hat Shakespeare den "Hamlet, Prinz von Dänemark", das berühmteste Theaterstück der Weltgeschichte, geschrieben und erstmals aufgeführt, 1602 wird "Hamlet" ins Register der Londoner Buchdrucker- und Buchhändlergilde eingetragen. Es gibt heuer viele Jubiläums-Aufführungen, sogar eine, wo "reuige Neonazis" mitspielen. Was Pankraz aber verwundert, ist, daß noch keiner unserer avantgardistischen Regisseure auf den Gedanken kam, den "Hamlet" einmal als Stasi-Stück, oder besser: als Stasiopfer-Stück zu inszenieren. So etwas bietet sich doch eigentlich an.

In keinem anderen Stück wird mehr gespitzelt und "operativ zersetzt" als im "Hamlet", nirgendwo werden mehr "Informelle Mitarbeiter" (IM) angeworben. Rosenkranz und Güldenstern, ehemalige Schulkameraden Hamlets und nun dafür bezahlt, ihn zu denunzieren und schließlich ans Messer zu liefern, sind geradezu der Inbegriff von Stasispitzeln. So wie sie, genau- so, haben die Genossen von der unsichtbaren Front gearbeitet.

Aber auch die unglückselige Ophelia wird von ihrem Vater, dem Stasi-Minister Polonius, ganz ungeniert eingesetzt, um den von ihr geliebten Hamlet auszuhorchen und ein Psychogramm von ihm zu erstellen. Und gegen ihren Bruder, Laertes, hat Polonius ebenfalls eine Großspitzelei eingeleitet: IM Reinhold soll Laertes’ persönliches Umfeld an der Pariser Universität zersetzen, ihn absichtlich in einen schlechten Ruf bringen, denn "ein Lügenköder fängt den Wahrheitskarpfen". Schwester Ophelia wird bekanntlich wahnsinnig angesichts so vieler Lügenköder.

Die Königin, immerhin Hamlets Mutter, betätigt sich nicht weniger fleißig als IM, liefert Spitzelberichte über ihren Sohn beim König ab, läßt den Minister Polonius noch extra hinter der Tapete lauschen, wenn sie Hamlet operativ bearbeitet. Der arme junge Prinz ist wie vor den Kopf geschlagen. Soeben noch hat man ihn auf der Universität zu Wittenberg mit hochmögenden Theorien vollgestopft – und nun dies!

Er kommt nach Hause, und der Geist seines Vaters teilt ihm in dürren Worten mit, daß er von seinem Bruder, Hamlets Onkel, hinterrücks ermordet worden sei und daß seine Frau, Hamlets Mutter, ein blutschänderisches Verhältnis mit diesem Bruder, dem jetzigen König, unterhalten habe. Und Onkel und Mutter, Hamlet faßt es nicht, sind auch schon, ganze zwei Monate nach des Vaters Tod, innig miteinander verheiratet und sitzen vereint auf dem vakant gewordenen Thron. So gehe es nun mal zu in der hohen Politik, wird dem aus Wittenberg Heimgekehrten immer wieder bedeutet. Doch dieser kann sich damit nicht abfinden.

Pankraz hat sich oft gefragt, warum die Interpreten Hamlet als einen weichlichen Zögerer hinstellen, als einen höheren Schlappschwanz. Dabei ist überhaupt nichts Schlappes an ihm. Er ist ein ganz normaler, idealistisch gesinnter Junge, der bis dato alles geglaubt hat, was man ihm an der Uni beigebracht hat. Und nun fällt er, konfrontiert mit den realen Verhältnissen im Staate Dänemark, buchstäblich aus allen Wolken.

Mühsam bahnt er sich seinen Weg, prüft vor allem penibel, ob der Geist des Vaters wirklich wahr geredet hat, ob es sich nicht vielmehr um eine Täuschung der Hölle handelt. Schnell merkt er, daß er von Spitzeln umgeben ist, daß er niemandem trauen darf, der Geliebten nicht und den Schulfreunden nicht und der Mutter am allerwenigsten. Allmählich lernt er den in Tyranneien notwendigen Double Speak, das Reden mit doppeltem Boden.

Einfach zu lügen wie die anderen, dazu ist er zu stolz und zu anspruchsvoll. So "spielt er den Narren", spricht in Andeutungen und Gleichnissen, und seine Rede ist zusätzlich noch durchsetzt mit drolligen university wits, mit Studentenjargon und Studentenscherzen und nicht zuletzt mit Ausdrücken sexueller Unsicherheit. All das wirkt ungeheuer sympathisch, Hamlet ist eine Identifikationsfigur ohnegleichen. Man kann sehr gut verstehen, daß Deutschlands intellektuelle Jugend Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit fliegenden Fahnen von Werther zu Hamlet überging.

Hamlet wird am laufenden Band desillusioniert und bleibt doch dem Ideal der Wahrheit treu. Wie so manches heutige Stasiopfer läßt er sich auf heikle Diskussionen mit den auf ihn angesetzten IMs ein, glaubt, daß, wenn man einen Tatbestand ordentlich durchspricht oder gar auf der Bühne nachspielt, der Bann der Lüge und der Bosheit vertrieben werden kann. Der Geist hat ihn zur "Rache" verpflichtet, aber lieber als Rache wäre ihm die Reue der durch Rede und Spiel weichgemachten Sünder, ein "Neuanfang" in Wahrhaftigkeit. Hier liegt, neben der einwandfreien Klärung des Sachverhalts, ein weiterer Grund für sein "Zögern".

Als er endlich zur blanken Rache bereit ist, erweist sich, daß ihm die Halunken in diesem trostlosen Geschäft allemal überlegen sind. Es gelingt ihm zwar, die niederen IMs Rosenkranz und Güldenstern mittels irrer Spaßintrige zu erledigen, aber den Hauptschurken, den König, den er als gerade Betenden von hinten abstechen könnte, schont er zunächst, denn "beim Gebet zu sterben, das wär Sold und Löhnung, Rache nicht".

Er will dem König im offenen Kampf Auge in Auge gegenübertreten. So findet der Zeit, sich aus der ersten Linie herauszubringen, Laertes gegen Hamlet aufzuhetzen, die edlen Jünglinge sich gegenseitig umbringen zu lassen, ihre Degen zu vergiften, den großen Kladderadatsch anzurichten.

Es gibt ein Zögern, das nicht aus Schlappheit entsteht, sondern aus stolzem Anstand selbst beim Rachenehmen. Verhältnisse, die so faul und überspitzelt sind wie die im Staate Dänemark, können nicht von Jünglingen à la Hamlet überwunden werden, konträr: Diese Verhältnisse überwinden ihrerseits die Jünglinge, und danach ziehen die "Realisten" ein, bei Shakespeare Fortinbras aus Norwegen, im Falle der Spitzel-DDR Helmut Kohl aus der BRD.


 
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