© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/01 15. Juni 2001

 
"Die SPD ist im Dilemma"
Der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker über die Berliner Regierungskrise und den 17. Juni
Moritz Schwarz

Herr Professor Görtemaker, wenige Tage vor dem Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR vom 17. Juni 1953 und wenige Wochen vor dem 40. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1961 steht Berlin ein Regierung unter Beteiligung der PDS ins Haus. Schlägt die deutsche Geschichte Purzelbäume?

Görtemaker: Berlin ist aufgrund der Konfrontation im Kalten Krieg, die hier stattgefunden hat, natürlich ein besonderes Pflaster. Diese Geschichte kann man nicht einfach leugnen. Andererseits muß man akzeptieren, daß die PDS über zehn Jahre nach der Wiedervereinigung eine Partei wie jede andere auch geworden ist. Wenn die PDS sich klar von den Verbrechen, die damals geschehen sind, distanziert, dann hat sie natürlich das Recht, in die politische Verantwortung miteinbezogen zu werden. Allerdings: Eine solche Distanzierung vermisse ich bisher! Zwar gibt es einzelne in der PDS, die das andeutungsweise getan haben – auch da hätte ich mir aber sehr viel mehr Klarheit gewünscht –, die große Mehrheit in der Partei ist jedoch offenbar nach wie vor nicht bereit, einen klaren Schlußstrich zu ziehen oder sich überhaupt nur ernsthaft mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen.

Dann hat der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen recht, wenn er nun versucht, die "antikommunistische Karte" zu spielen?

Görtemaker: Das zu tun, ist natürlich naheliegend, wenn auch nicht besonders angenehm. Aber in einer Stadt wie Berlin ist das kaum zu vermeiden, und die PDS muß sich das schon gefallen lassen.

Eine Erinnerung an die SED-Verbrechen in der Politik ist wichtig, doch die Union scheint sich daran immer nur vor den Wahlen zu erinnern. Wundert es da, wenn kaum jemand mehr diesen Antikommunismus ernst nimmt?

Görtemaker: Es ist eben Wahlkampf. Aber natürlich wäre die Union besser beraten gewesen, eine gute Politik zu machen, als zu versuchen, sich jetzt mit starken Sprüchen zu retten.

Hat die Berliner CDU sich – phlegmatisch geworden durch den Filz – angesichts der Krise der Stadt als zu selbstgefällig gezeigt?

Görtemaker: Ein besseres Krisenmanagement Diepgens hätte dazu beitragen können, die ganze Affäre nicht so eskalieren zu lassen. Die beste Lösung wäre gewesen, Diepgen hätte schon vor Wochen den Weg zu Neuwahlen freigemacht. Jetzt befindet sich die CDU in der Defensive, und da meint sie eben, auf solche Mittel zurückgreifen zu müssen.

Die SPD steht im Zentrum der kommenden Regierungskoalition und wird mit Klaus Wowereit wohl den nächsten Regierenden Bürgermeister Berlins stellen. Dennoch wirkt die Situation eher wie die Stunde der PDS.

Görtemaker: Die SPD befindet sich in einem Dilemma. Auf der einen Seite konnte sie dem, was da geschah, nicht mehr länger tatenlos zusehen, ohne gänzlich das Gesicht zu verlieren. Auf der anderen Seite ist die SPD in Berlin keine bedeutende politische Kraft mehr. Sie hat nur dann eine Chance, den gordischen Knoten zu durchschlagen, wenn es ihr gelingt, zur Macht zurückzukehren. Dazu muß sie sich aber entsprechender Hilfstruppen versichern. Leider ist sie da machtpolitisch bedenkenlos. Aus parteipolitischer Sicht mag das verständlich sein, doch verrät die SPD damit zu einem guten Teil ihre Ideale. – Vor ein paar Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen, doch die Entscheidung auf dem Sonderparteitag vergangenes Wochenende wurde einstimmig getroffen.

Die SPD konnte lange Zeit durchaus "die Berlin-Partei" genannt werden: sie stellte vor und nach dem Krieg jahrzehntelang die Bürgermeister und konnte mit Ernst Reuter und Willy Brandt den Freiheitsmythos Berlins an ihre Fahnen heften. Wie konnte die Partei dieses politische Kapital so einfach verspielen?

Görtemaker: Die SPD hat in der Vergangenheit schwere Führungsfehler gemacht. Vor allem Walter Momper hat wohl dafür gesorgt, daß die SPD ihre Chancen in der Stadt für lange Zeit verspielt hat. Seine Entscheidung, 1989 mit der "Alternativen Liste", wie die Grünen damals in Berlin hießen, zu koalieren, wurde von vielen sozialdemokratischen Wählern als Verrat empfunden – und das war es auch. Insofern trägt Momper die Hauptschuld daran, daß die SPD in diesen Abwärtstrend geraten ist. Die Entscheidung für die große Koalition 1990 hat der Partei dann wohl "den Rest gegeben", weil sie dort natürlich das typische Schicksal eines Juniorpartners erlitt, nämlich sich nicht ausreichend profilieren zu können. Nach den Neuwahlen, vermutlich im September, muß die SPD dann zeigen, ob sie unter Klaus Wowereit wieder aus eigener Kraft auf die Beine kommt. Natürlich bleibt aber das Problem bestehen, daß das typische SPD-Wählerpotential im Osten der Stadt auch weiterhin von der PDS abgeschöpft wird.

Steht die PDS stellvertretend für den Osten der Stadt? Bedeutet also ihre Regierungsbeteiligung tatsächlich eine Überwindung der Teilung, wie Gregor Gysi nicht müde wird zu behaupten?

Görtemaker: Wenn es die PDS nicht gäbe, müßte man sie erfinden! Denn die PDS hat de facto einen enormen Beitrag zur Integration vieler Menschen aus der ehemaligen DDR in das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland geleistet, die sonst außerhalb dieses Systems geblieben wären. Und dabei hat die PDS keine verantwortungslose Politik betrieben. Egal wie man zur Vergangenheit stehen mag, diese Leistung muß man der Partei zubilligen. Das enthebt sie aber nicht der Pflicht, sich ernsthaft mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzten. Im Gegenteil, wenn es Gysi ernst meint, dann muß die PDS das noch dringend leisten.

Dennoch ist eine solche Regierungsbeteiligung doch kaum zu rechtfertigen, wenn man an die Opfer der SED-Verbrechen denkt. Schließlich ist die PDS keine postkummunistische Auffangorganisation, sondern die gewandelte SED.

Görtemaker: Vor allem wegen der Opfer ist der zweite, noch ausstehende Schritt – die ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit – so wichtig. Schuld ist nur dann abzutragen, wenn auch Einsicht besteht. Gerade um an der Regierung beteiligt zu werden, muß die Partei ihre Einsichtsfähigkeit unter Beweis stellen.

Das scheint die Sicht des Geschichtswissenschaftlers auf die Funktion der PDS im historischen Prozeß zu sein. Aus der Sicht der PDS-Mitglieder wird diese Partei allerdings als Selbstbehauptung der DDR-Vergangenheit verstanden. Stellt damit nicht der Einzug der PDS ins Rote Rathaus für die Opfer eine unbeschreibliche Provokation dar?

Görtemaker: Dieses Problem hatten wir ja bereits nach 1945 in Deutschland. Diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht bereit waren, ihre nationalsozialistischen Positionen zu überdenken und zu revidieren, wurden weitgehend ausgegrenzt und hatten kein Recht, sich am neuen politischen System Westdeutschlands zu beteiligen. Die Bundesrepublik Deutschland wollte von Anfang an kein Nachtwächterstaat sein, sondern eine wehrhafte Demokratie. Insofern gewinnt auch die PDS nur dann ein Recht, in das politische System der Bundesrepublik miteinbezogen zu werden, wenn sie zeigt, daß sie die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit ernst meint.

Berlin ist nicht Schwerin: Bedeutet eine Regierungsbeteiligung der PDS in der deutschen Hauptstadt nicht einen tiefen Einschnitt in die bundesdeutsche Geschichte?

Görtemaker: Zweifelsohne wird eine Beteiligung der PDS an der Regierung der Bundeshauptstadt – anders als in Mecklenburg-Vorpommern, und vor allem vor dem historischen Hintergrund Berlins – Signalwirkung haben. Aber auch das wird die PDS weiter unter Druck setzen, den Prozeß der Vergangenheitsbewältigung endlich ernsthaft in Angriff zu nehmen. Ich habe aus zahlreichen Gesprächen mit Politikern und Kollegen in den letzten Tagen den Eindruck gewonnen, daß viele Sozialdemokraten gerade diesbezüglich nun eine Initiative von der PDS erwarten.

In jedem anderen Volk würde eine solche Regierungsbeteiligung vor dem Hintergrund der Jahrestage von Volksaufstand und Mauerbau zu erheblichen Protesten führen. Haben die Deutschen kein historisches Gedächtnis mehr?

Görtemaker: Natürlich kann die SPD jetzt durchaus langfristigen Schaden nehmen, wenn sie sich über bestimmte Grundsätze, die für diese Partei jahrzehntelang gegolten haben, hinwegsetzt – so etwas wird vom Wähler so schnell nicht verziehen. Im Moment sind die Bürger ob der jüngsten Ereignisse noch mehr oder weniger unter Schock. Doch die Lähmung, die aus diesem Entsetzen resultiert, wird nach der Abwahl Diepgens schwinden. Der Wahlkampf und vor allem die Medien werden ihren Teil dazu beitragen, diese historischen Daten den Menschen ins Bewußtsein zu bringen. Und die bürgerlichen Wähler West-Berlins werden – sollte es zu einem unreflektierten Bündnis zwischen SPD und PDS kommen – ohne Zweifel der SPD ihre Stimme verweigern und lieber zur FDP gehen.

Wenn erst die Medien an diese Daten erinnern müssen – zeigt das nicht, wie vergessen die Ereignisse im Volk tatsächlich sind?

Görtemaker: In den fünfziger Jahren bis hinein in die Sechziger gab es sehr wohl ein Gedenken an das, was am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin und in anderen Städten der DDR geschehen ist. In den späten sechziger und in den siebziger Jahren wurde der Tag aber in der Tat schlicht zu einem willkommenen Urlaubstag. Ein Grund dafür war auch das, was die Adenauer-Politik in Westdeutschland daraus gemacht hat: Das Gedenken an den 17. Juni wurde Ausdruck des Kalten Krieges.

Wieso hat die deutsche Linke nie versucht, sich des 17. Junis zu bemächtigen? Schließlich begann die Revolte als Arbeiteraufstand und entwickelte sich zu einem Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung. Auch den nationalen Aspekt – schwarz-rot-goldene Fahnen, Durchmarsch durchs Brandenburger Tor, Forderung nach der Einheit Deutschlands – hätte die Linke in jedem anderen Land freudig aufgenommen.

Görtemaker: Das ist schon richtig, aber die DDR wurde eben als Staat der Linken angesehen, insofern taten sich Sozialisten und Sozialdemokraten im Westen schwer damit, Handlungen der sowjetischen oder ostdeutschen Machthaber grundsätzlich zu verurteilen. Denn die DDR galt, bei aller berechtigten Kritik am "realexistierenden Sozialismus", als wichtige Alternative im Wettkampf der Systeme. Das hat es der Linken unmöglich gemacht, den 17. Juni als Tag des Kampfes um Freiheit und Selbstbestimmung zu betrachten. Man hat das dann der bürgerlichen Mitte und Rechten überlassen. Das ist natürlich im nachhinein betrachtet ein schwerer Fehler gewesen. Und deshalb tat sich die Linke auch so schwer damit, die Wende des Jahres 1989 zu akzeptieren.

Die deutschen Revolten und Revolutionen genießen allesamt kein hohes Ansehen bei den Linken. Immer wieder wird vermittelt, die Deutschen seien zu feige, zu gehorsam oder schlicht "zu deutsch" gewesen und hätten nur materielle statt der Ziele der revolutionären Theorie erstrebt. Resultiert das Vergessen der eigenen revolutionären Leistungen unseres Volkes nicht daraus, daß die Linke den Deutschen ihre Revolutionen "mies macht", weil ihnen die Aufstände allesamt nicht "links" genug waren?

Görtemaker: Auch wenn immer wieder der gegenteilige Eindruck erweckt wird, tatsächlich waren sowohl die Revolution von 1848, wie auch die Novemberrevolution 1918 erfolgreich. Denn das Scheitern sowohl der Freiheits- und Einigungsbewegung 1848 als auch der Weimarer Republik hatte seine Ursache weniger in der jeweiligen Revolution als im weiteren Verlauf dieser historischen Prozesse. Auch 1989/90 wurde historisch gesehen "richtig gemacht", denn hätte man sich damals auf eine zweijährige Verfassungsdiskussion eingelassen, und wäre zwischendurch Gorbatschow gestürzt worden, stünden die russischen Truppen vielleicht bis heute noch in Deutschland. Schlimm finde ich in der Tat die Unterstellung vieler, die mit dem Wahlergebnis 1990 nicht zufrieden waren, die Ostdeutschen hätten nur "die Banane" gewählt. Dabei haben die Ostdeutschen durchaus Anlaß, auf das, was sie getan haben, stolz zu sein. Der 17. Juni war nicht nur sehr mutig, sondern hatte durchaus auch ideelle Ziele. Auch im November 1989 bewiesen die Ostdeutschen sehr viel Mut, und immerhin gelang es – im Verbund mit der Flüchtlingsbewegung – die Regierungen in Moskau, in den osteuropäischen Hauptstädten und in Ost-Berlin so unter Druck zu setzen, daß diesen nichts mehr übrigblieb, als die Mauer zu öffnen. Die dritte Revolution der Ostdeutschen – und das sollte man nicht unterschätzen, auch wenn das Ereignis weniger spektakulär war als das im November zuvor – war die mit dem Stimmzettel: Die Volkskammerwahl am18. März 1990, die erste frei Wahl in der DDR überhaupt. Hier wurde die DDR abgewählt.

Erstaunlicherweise scheinen sich gerade die Menschen der ehemaligen DDR, deren Eltern den 17. Juni doch "gemacht haben", weniger mit dem Aufstand zu identifizieren als die Westdeutschen.

Görtemaker: Den Deutschen in der DDR wurde der Volksaufstand natürlich nie ausreichend ins Bewußtsein gebracht. Heute muß man den 17. Juni natürlich in die Reihe einer deutschen Revolutionsgeschichte stellen. Wenn man ihn nur als isoliertes historisches Ereignis versteht und vermittelt, dann wird er immer nur eine Angelegenheit von Feierstunden bleiben.

Was war der 17. Juni: Soziale Revolte, Freiheitsrevolution oder Kampf um nationale Einheit?

Görtemaker: Der "17. Juni" hat sich ja am 16. und 17. Juni 1953 abgespielt, und es gibt innerhalb dieser zwei Tage eine Entwicklung, die wirklich verblüffend ist: Der Ausgangspunkt war die Unzufriedenheit über die Erhöhung der Arbeitsnorm durch die SED. Die Protestbewegung entwickelte sich dann aber schnell zu einer Artikulation des Freiheitswillens und des Willens zur deutschen Einheit. Der Prozeß, der im Herbst 1989 Monate gebraucht hat, hat sich hier innerhalb von zwei Tagen abgespielt.

Heute erinnert nur ein großes Holzkreuz, weit abgelegen in Berlin-Zehlendorf, an den 17. Juni 1953. Wäre es nicht Zeit für ein repräsentatives und zentral gelegenes Mahnmal?

Görtemaker: Ideal wäre natürlich die damalige Stalinallee, heute Frankfurter Allee, wo der Aufstand seinen Ausgang genommen hat. In Frage kämen aber auch das ehemalige Haus der Ministerien – heute Bundesfinanzministerium – oder der Potsdamer Platz, wo die Auseinandersetzungen vom 17. Juni1953 ihren Höhepunkt erreichten. Es wundert mich, daß bisher noch niemand auf diesen Gedanken gekommen ist, denn wenn es für so etwas einen guten Anlaß gibt, dann ist es ein Volk, das sich gegen ein Zwangsregime erhoben hat: Es wäre höchste Zeit, solch ein Denkmal zu errichten.

 

Prof. Dr. Manfred Görtemaker geboren 1951 in Großoldendorf bei Oldenburg. 1969–1975 Studium der Politikwissen-schaft, Neueren Geschichte und Publizistik in Münster und Berlin 1972 Journalistische Tätigkeit 1980/81 John F. Kennedy Memorial Fellow am Center für European Studies, Harvard 1980–89 Visiting Assistant Professor of Overseas Studies, Stanford 1983–89 Assistent an der Freien Universität Berlin, 1991–92 Gastprofessur in Leipzig und Potsdam. Seit 1993 Professor für Neuere Geschichte, Universität Potsdam ,1994 Gastprofessur an der Duke University, N-Carolina,USA 1994–95 Prorektor der Universität Potsdam

 

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