© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/01 08. Juni 2001

 
Damit die Regierung dem Volk dient
China: Zhang Xianling hat ihren Sohn vor zwölf Jahren auf dem Tiananmen verloren / Sein Tod soll nicht umsonst sein
Rita Baldegger

Zhang Xianling zieht ein Bild aus einem Umschlag. "So wurde mein Sohn ins Krankenhaus eingeliefert." Der junge Mann auf dem Bild ist tot. Sein Gesicht ist erdverkrustet, die Brille liegt nachlässig auf seiner Brust. Nichts erinnert mehr an den lebhaften Jungen mit dem forschenden Blick.

Wang Nan war neunzehn, als er in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 mit dem Fahrrad zum Tiananmen fuhr. Mit dem Fotoapparat stand er am Rande des Platzes und wollte Zeuge der Geschichte sein. Er wußte nicht, daß Deng Xiaoping der Armee die Order erteilt hatte, den Platz noch vor Morgengrauen zu räumen. Seit Wochen hielten Demonstranten – Studenten, Arbeiter, Bürger – den Platz besetzt. Sie forderten ein Ende der Korruption und mehr Demokratie.

Zum Schutz vor Knüppelhieben trug Wang Nan einen Motorradhelm. Kurz nach ein Uhr morgens durchdrang eine Kugel seine Stirn und trat hinter dem linken Ohr wieder aus. Die Soldaten hinderten die Umstehenden daran, Wang Nan, den Mittelschüler, der nur Augenzeuge sein wollte, ins Krankenhaus zu bringen: "Er ist ein Unruhestifter!" Wang Nan starb um halb vier Uhr morgens. Die Soldaten verscharrten ihn und andere Opfer an der Westseite des Tiananmen. Die improvisierten Totenscheine, von hilflosen Rettern in die Taschen gesteckt, hatten die Soldaten entfernt. Keine Menschen, die sie getötet hatten, nur namenlose Leichen.

Doch die Gräber waren flach, und der Regen spülte die Erde weg. Anwohner beklagten sich über den Gestank. Die Toten wurden wieder ausgegraben. Wang Nan wurde nicht wie die anderen sofort verbrannt, sondern kam ins Krankenhaus. Ein Mißverständnis. Weil er alte Armeekleider trug, hielten ihn die Soldaten für einen der ihren. Sie gaben Wang Nan seinen Namen zurück und den Eltern den Körper ihres toten Sohnes. Was den Eltern blieb, waren Fragen.

Zusammen mit den Angehörigen anderer Toter und Verwundeter schrieb Zhang Xianling Briefe an die Regierung. Die Gruppe verlangte die Bildung eines Untersuchungskomitees, die Veröffentlichung einer Namensliste der Opfer, die rechtliche Aufklärung der Ereignisse und die Verfolgung der Verantwortlichen. Die Regierung schwieg. 1999 klagte die Gruppe Li Peng, den früheren Premier, bei der Obersten Staatsanwaltschaft wegen Mordes an. "Deng Xiaoping ist tot, der damalige Präsident Yang Shangkun ist tot, es bleibt nur noch Li Peng", sagt Zhang Xianling. Die Staatsanwaltschaft nahm die Anklage zwar entgegen, stellte aber keine Empfangsbestätigung aus. Bis heute warten Zhang Xianling und ihre Mitstreiter auf eine Antwort.

Zhang Xianling sieht die Beschuldigung von Li Peng durch die "Tiananmen Papers" bestätigt: Laut denen hat er Deng Xiaoping zu einer unversöhnlichen Haltung gegenüber den Demonstranten angestachelt. Li Peng ist heute Vorsitzender des Nationalen Volkskongresses und immer noch Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros, des Zentrums der Macht.

Die Dokumente, deren Echtheit nicht mit letzter Gewißheit bestätigt werden kann, sind Aufzeichnungen von Besprechungen der Führerschaft während der Krise. Für die Zusammenstellung zeichnet ein Kader mittleren Ranges unter dem Pseudonym Zhang Liang verantwortlich. Anfang des Jahres wurden die Dokumente in den USA veröffentlicht und im Frühling in einer chinesischen Ausgabe in Hongkong. Das Buch, das die chinesische Regierung als Fälschung abtut, ist in China verboten, und Websites mit Auszügen sind blockiert.

Das Buch gibt Zhang Xianling Hoffnung, daß die Wahrheit eines Tages ans Licht kommt. Zwölf Jahre nach dem Tiananmen-Massaker bestimmt die Tragödie weiter ihr Leben. Unablässig richtet sie Eingaben an die Regierung, unablässig sucht sie Angehörige von Opfern. Sie schätzt die Anzahl der Toten auf 1.500. "Wir tun es nicht für uns", sagen sie und ihr Mann Wang Fandi, "wir tun es für die Zukunft Chinas." Damit die Ereignisse vom 4. Juni 1989 nicht ins kollektive Unterbewußtsein abgleiten. Damit das Recht in China nicht nur ein Wort bleibt. Und damit die Regierung dem Volk dient und nicht umgekehrt. "Ich werde das noch erleben", sagt Zhang Xianling. Sie ist 64.


 
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