© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/01 01. Juni 2001

 
Schwarzbuch des Essens
Volker Angres, Claus Peter Hutter, Lutz Ribbe: Futter fürs Volk. Was die Lebensmittelindustrie uns auftischt
Volker Kempf

Das Futter fürs Vieh ist durch die BSE-Krise in die Schlagzeilen geraten: "Tiermehl für Pflanzenfresser". Doch wie steht es um das "Futter fürs Volk"? Volker Angres (Leiter der Umweltredaktion beim ZDF), Claus-Peter Hutter (Präsident der Stiftung Europäisches Naturerbe) sowie Lutz Ribbe (Direktor der umweltpolitischen Abteilung bei EURONATUR) machen deutlich, daß man uns oft genug "den letzten Dreck" serviert. Eine Art "Restmüll" setze uns jene unheimliche Allianz aus Lebensmittelindustrie, Agrarpolitik und industrialisierter Landwirtschaft vor. In der Fischpfanne sei schon lange nicht mehr nur Fisch, und der Schweinebraten bestehe aus etwas anderem als nur aus Schweinefleisch. Aber was kommt statt dessen auf den Speiseteller? Antworten hierauf gibt das Buch in fünf Kapiteln.

Im ersten Kapitel "Küche und Kochen" geht es um das Essen aus Tüten und Kübeln, das auch in Gaststätten und Hotels seinen Siegeszug angetreten habe und die Supermärkte überquellen lasse, so daß es kaum eine Fluchtmöglichkeit vor "Einheitsbrei und Einheitsgeschmack" gäbe. Selbst anscheinend völlig natürliche Dinge werden manipuliert und behandelt, daß man sich fragen muß, ob man der "Diktatur aus der Tüte überhaupt noch entkommen" kann. Kleine Kostprobe: "Mit großem Werbeaufwand versucht die Firma Kraft-Jacobs-Suchard den Leuten klarzumachen, daß das traditionelle Frühstücksbrot ausgedient hat. Wer gut sein will in der Schule, wer nicht in die miese Stimmung verfallen will, die das Schulbrot scheinbar zwangsläufig produziert, muß wohl oder übel ’Lunchables‘ mit sich führen. ’Lunchable‘ – zusammengesetzt aus dem Englischen lunch, also ’Mittagessen‘ und able (tauglich) – heißt also frei übersetzt ’eßbar‘." Sei das nicht traurig, fragen die Autoren, "wenn man auf das Essen schon draufschreiben muß, daß es eßbar ist?"

Was ist aber genau drin in dem, was da eßbar sein soll, 100 Gramm wiegt und 2,99 Mark kostet? Acht Kräcker und acht Scheibchen Käse sowie Wurst. Einmal abgesehen davon, daß man die gleiche Käsesorte zum Kilopreis von 4,95 Mark, also um ein vielfaches billiger kriegt, sind da auch noch ernährungsphysiologisch entbehrliches Natriumcarbonat, Ammonalcarbonat, Konservierungsstoff E 223, Konservierungsstoff E 200 sowie Stabilisator E 452, Geschmacksverstärker E 621, Antioxidationsmittel, Natriumscorbat, Konservierungsstoffe E 250, E 252 und viele andere Leckereien mehr drin. Schmeckt so etwas überhaupt? Ein Blick hinter die Drehkulissen des zum Produkt gehörenden Werbespots zeigt, daß sich das werbende Kind von der Speise angeekelt abwandte, ehe es lernte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Bald aber werde den Geschmacksnerven die Lust am Pausenbrot durch Suggestion abgewöhnt – über die Werbung versteht sich. Weitere Beispiele über das vermurkste Essen werden angeführt, wobei im vorliegenden Falle der billigste Fraß paradoxerweise auch noch extrem teuer ist. Die zahlreichen Beispiele illustrieren, daß in der Nahrungsmittelproduktion letztlich die Formel "Immer gleicher und immer billiger" gilt, was gleichbedeutend mit "immer schlechter" ist.

Den Gipfel des Ungemachs erklimmen die drei Autoren im zweiten Kapitel "Gift und Galle" anhand des Rinderwahnsinns, der ihnen als ein dramatisches Trauerspiel in acht Akten erscheint: Fleischindustrie und Tiermehlhersteller treten als skrupellose Absahner und Strippenzieher in Erscheinung. Britische Politiker nehmen die Rolle von Marionetten der Fleischindustrie ein. Der Europäische Rat und Kommission sitzen mit der Zipfelmütze da und verschlafen treudoof im Dienst der Lobbyisten die Entwicklung. Auf die Bühne treten auch Veterinäre, die sich aber weniger um das Wohl der Tiere kümmern, sondern als willige Vollstrecker und Berufstandssicherer agieren. Die Bauern stehen wie in einem Schachspiel da und werden zu ahnungslosen Opfern, mit allerdings pfiffigen Ideen im Hintergehen der Spielregeln beziehungsweise Verordnungen. Wissenschaftler lassen unterdessen die Wissenschaft beiseite und ziehen mit der Karawane hilflos umher. Die Bundesregierung gefällt sich in großartigen Forderungen, solange sie andere Länder betreffen.

Den Autoren geht es in ihrer Anklage aber nicht nur um den Schutz der Verbraucher, sondern auch um die Tiere. Drastisch kommt zum Ausdruck, wie es um das Geflügel bestellt ist: "Gequält, gegrillt, gefressen." Nicht nur für die Ernährungsindustrie ketzerische Meinungsäußerungen bringen die Verfasser unters Volk, sondern auch reichlich Belege, Zahlen und Fakten über den Stand der Dinge. Aus ihrem akribisch recherchierten Faktenfundus präsentieren sie Informationen, die gemeinhin verschwiegen werden. Das betrifft die Anzahl der Tiere in Europa (zum Beispiel 350 Millionen Legehennen), die wenig appetitliche Qualität ihres Kraftfutters und die unwürdigen Lebensbedingungen dieser Mitgeschöpfe. Ein zukunftsträchtiges Kapitel befaßt sich mit "Erbgut und Erbschleicher(n)". Darin wird die Manipulation von Pflanzen und Tieren thematisiert, um am Ende zu fragen, wann wir selbst an der Reihe sind. Allein der Genmais, auf Antibiotika- und Giftmittelresistenz angelegt , dürfte den Einsatz von Giftstoffen erhöhen, damit das Grund- und Trinkwasser vergiften und die Bauern in Abhängigkeit zu den Patentinhabern des Saatgutes bringen.

Das vierte Kapitel "Bauern und Boden" nimmt die Agrarpolitik unter die Lupe, um sodann ein Plädoyer für den Bio-Bauern zu formulieren. Damit die Verbraucher das Ihre tun können, finden sich in einem umfangreichen Serviceteil Abhandlungen über die "richtige Ernährung heute" und Gourmettips für morgen. Diese Abhandlung tritt in Form eines Manifestes für mehr Genuß, Lebens- und Umweltqualität auf. Griffig formuliert heißt es dort etwa: "Naturschutz geht durch den Magen!", gefolgt von vierzehn Forderungen für den Schutz von Nutztierrassen, gegen die Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft usw.

Eine 70 Seiten lange Liste mit meist regionalen Kontaktadressen zu den behandelten Fragen macht das Buch "Futter fürs Volk" zu einem Handbuch für eine Verbraucherschutzbewegung, wie sie Helmut Schelsky bereits 1976 – seinerzeit vergeblich – gefordert hat.

 

Volker Angres, Claus-Peter Hutter, Lutz Ribbe: Futter fürs Volk. Was die Lebensmittelindustrie uns auftischt, Droemer, 2001, 397 Seiten, 36,90 Mark


 
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