© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/01 01. Juni 2001

 
Der fliegende Helgoländer
Zum 75. Geburtstag des Schriftstellers James Krüss
Gesa Steeger

Meine Heimreise (...) war ein merkwürdiger Anachronismus: eine dreimonatige Taugenichts-Idylle, ein Lied an die Freude und ein Gesang an die Freiheit. (…) Es war einfach der Genuß der absoluten persönlichen Freiheit: Freiheit von Besitz, von Grundsätzen, von Erziehern jeglicher Art und Schattierung, von Verantwortung, Rücksicht, Konvention und von Furcht und Mitleid. Ich war ein vollkommener, unendlich heiterer Nihilist." Nur wenige dürften im Sommer 1945 solche Gefühle gehabt haben wie James Jakob Hinrich Krüss auf seinem Fußmarsch von Aussig nach Cuxhaven. Überhaupt schien er ein vaterlandsloser Geselle gewesen zu sein, der sich nur zur Luftwaffe gemeldet hatte, um der Lehrerbildungsstätte Ratzeburg zu entkommen. Seinen weltbekannten Urgroßvater läßt er nach der Aufzählung der Nationalitäten seiner Vorfahren zum Schluß kommen, daß alle im Endeffekt doch nur Helgoländer gewesen seien. Fürs Vaterland zu sterben, resümiert er, solle man getrost den Leuten vom Festland überlassen.

Reisen und Inseln bleiben feste Größen in Krüss’ Leben. Obwohl er Helgoland erst 1961 wieder besucht, bleibt er in seinen Büchern dem Inseldasein treu, schließlich habe er der Enge des Eilands die Weite seiner Phantasie zu verdanken. Außerdem erfuhr er eine zweisprachige Erziehung in Hochdeutsch und Friesisch, was seine Liebe für die Sprache an sich weckte. Bis zu seinem Tode erlernte er etliche Fremdsprachen, übersetzte ausländische Kinderbücher und befaßte sich mit sprachwissenschaftlichen Studien. Sein wohl bekanntestes Buch "Mein Urgroßvater und ich" (1959) ist neben der Beschreibung des Inseldaseins voll von Geschichten und kindgerechten Reflexionen über das Wesen der Sprache. Das Dichten wird dabei nicht nur als Zeitvertreib, sondern als Kunsthandwerk, als Versedrechseln beschrieben. In einer Zeit, in der die Gedichtform an Bedeutung verlor, erlegte Krüss seinen Protagonisten immer neue Bedingungen auf. So entstand die Gattung der ABC-Gedichte, bei der jedes Wort mit einem anderen Buchstaben anfängt und zwar in der Reihenfolge des Alphabets. Daß sich das Ganze auch noch zu reimen hat, ist selbstverständlich.

Nach dem Krieg gibt er in Hamburg die Zeitschrift Helgoland für die vertriebenen Helgoländer heraus und siedelt Anfang der fünfziger Jahre nach München über, wo ihn Erich Kästner unter seine Fittiche nimmt. Krüss’ Schaffenskraft ist phänomenal: allein in den Jahren von 1953 bis 1963 erscheinen dreißig Bilderbücher, drei Gedichtsammlungen, neun Romane und Erzählungen und zwölf Übersetzungen, dazu zahlreiche Bearbeitungen für den Rundfunk. Außerdem reist er durch halb Europa. Bis ins hohe Alter verläßt ihn die Wanderlust nicht.

Mit dem "Leuchtturm auf den Hummerklippen" (1956) legt Krüss seine erste Erzählung für Kinder vor. Der Aufbau ist Krüss-typisch: innerhalb einer Rahmenhandlung, die einen Inselalltag darstellt, werden die unterschiedlichsten Geschichten erzählt, teils um die Protagonisten zu unterhalten, teils um sie zu belehren oder um den aufmerksam lauschenden Poltergeist Markus Marre daran zu hindern, Unfug zu machen. Die Erzähler läßt Krüss sein Credo erörtern, welches besagt, daß eine Geschichte nicht wirklich passiert sein müsse, um wahr zu sein.

Überhaupt hält sich Krüss mit Leserbelehrungen in seinen Büchern nicht zurück. 1958 erscheint "Die glücklichen Inseln hinter dem Winde", wo Mensch Tier und Pflanzen in einem seelenvollen Miteinander leben, vegetarisch natürlich – was den gleichberechtigten Pflanzen nicht gefallen haben dürfte. Das Paradies droht an der Langeweile zu scheitern, die Mensch und Raubtier auf dumme Gedanken bringt. Krüss’ Schlußfolgerung: Das wahre Utopia liegt in der Kunst.

1959 erblickt "Mein Urgroßvater und ich" zur Freude aller Deutschlehrer das Licht der Welt und staubt zu Recht den Deutschen Jugendbuchpreis ab. Die Protagonisten, die sich wegen ihres Alters außerhalb der Erwerbstätigkeit befinden, stehen in einem nahezu sokratischen Dialog miteinander. Urgroßvaters Geschichten und die gemeinsam erarbeiteten Verse dienen dazu, Mitmensch und Umwelt besser zu verstehen. Immer wieder wird ein Bezug zur beschaulichen Inselwirklichkeit hergestellt. Die Dichterei wird gegen Ende sogar von der prosaischen Urgroßmutter sanktioniert, als sich herausstellt, daß auch sie heimlich dichtet.

Von dieser hellen Welt löst sich Krüss mit seinem wohl berühmtesten Werk "Timm Thaler oder das verkaufte Lachen" (1962). Timm Thaler schließt um des Reichtums willen einen Teufelspakt, aus dem ihn nur die Hilfsbereitschaft seiner Freunde befreit. Diese Kritik an der Wirtschaftswunderwelt erschien zuerst in der DDR, kommt aber im Gegensatz zu anderen konsumkritischen Kinderbüchern ohne moralischen Zeigefinger aus.

Auf diesen literarischen Höhenflug folgen viele belanglose Bücher wie "Der Weihnachtspapagei" (1969) oder "Bongos Abenteuer" (1989). Aus der Masse der schönen Geschichten und witzigen Gedichte ragt fremdartig "Der kleine Flax" (1975) hervor. Diese Selbstfindung eines Hänschenkleins ist so grotesk und unmotiviert grausam, daß man sie eher in das Werk seines Illustrators, nämlich Janosch, einordnen würde.

1966 zieht es ihn wieder auf die Insel. Diesmal ist es Gran Canaria, wo er bis zu seinem Tod 1997 wohnt. Dort ist er nicht weniger fleißig ist als zu seiner Münchner Zeit. Der "Urgroßvater", die "Hummerklippen" und "Thimm Thaler" bekommen Fortsetzungen, Krüss arbeitet fürs Fernsehen, studiert die Sprache der Kanarier, verfaßt linguistische Schriften und beginnt mit seiner Autobiographie, deren erster Teil 1988 erscheint. Die Kritik der siebziger Jahre, die sein sozialkritisches Engagement lobt, sich aber von der erzählerischen Phantastik distanziert, ficht ihn nicht an. "Wenn wir auch niemals ganz glücklich sein können, so sollten wir uns von der Glückseligkeit doch eine Vorstellung machen. (…) Wir brauchen ein Bild des Paradieses, wie der Seemann einen Polarstern braucht, um sein Schiff sicher zu führen."

James Krüss: Ein Leben zwischen Wanderlust und Inseldasein


 
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