© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/01 01. Juni 2001

 
Kolumne
Stadt-Wüsten
Klaus Hornung

Das Gesicht der Metropolen und Städte spiegelt den geistigen und kulturellen Zustand eines Landes auf das genaueste wider. Das wissen wir spätestens seit Alexander Mitscherlichs Buch "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" (1965). Man braucht nur etwa Lyon, Reims, Bordeaux oder Rennes mit den kriegszerstörten und in den fünfziger Jahren rasch wieder aufgebauten deutschen Großstädten wie Köln, Hamburg, Frankfurt, Hannover oder Stuttgart zu vergleichen. Noch immer bietet das Zentrum unserer Hauptstadt Berlin mit dem ausgebeinten "Palast der Republik" und dem Rummelplatz davor ein Bild des nationalen und kulturellen Jammers. Während zum Beispiel die geschichtsbewußten Polen ihre im Krieg total zerstörte Hauptstadt und ihr Königsschloß trotz bitterer Armut und Kommunismus wenige Jahre nach dem Krieg wiedererrichtet hatten, ist in Berlin die nun zehn Jahre währende Debatte um den Wiederaufbau des Schlosses als städtebaulichem Zentrum der Hauptstadt noch immer ohne Ergebnis. Der nationale Selbsthaß eines Teiles der jungen Generation in Politik und Kultur dokumentiert sich hier wie in einem scheußlichen Brennspiegel.

Jetzt scheint sich auch in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart ein ähnliches Schanddrama anzubahnen. Einer der schönsten Plätze der Stadt, der Karlsplatz, gleich neben dem Alten Schloß und von Kastanienbäumen umrahmt mit einem Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I., mit dem auch die Schwaben die Reichsgründung von 1871 akzeptieren, soll stupiden ökonomischen Interessen geopfert werden. Eine Stadtmarketing-Gesellschaft und die City-Initiative Stuttgart (CIS) von Einzelhändlerinteressen bedrängen das Rathaus, das Denkmal abzureißen und durch einen Platz für Kaufbuden, Floh- und Fischmärkte oder einfach Fun und Rummel zu ersetzen. Eine geschichtsvergessene Gegenwart, die von ihrer eigenen Trostlosigkeit keine Ahnung hat, zieht einen weiteren Ort der Eß-, Trink- und Spaßgesellschaft einem "alten Kaiser" vor.

Man wird an Friedrich Nietzsche erinnert: "Die Wüste wächst, weh’ dem, der Wüsten birgt." Einmal mehr scheinen heutige Deutsche nicht zu begreifen, um was es hier geht. Einmal mehr wird das Erbe an Kommerz und Rummel verscherbelt. Deutsche Touristen in kurzen Hosen und T-Shirts werden das europäische Erbe dann eben in Rom, Paris, Madrid, London, Tallinn oder Stockholm besichtigen, wenn überhaupt.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaften an der Universität Stuttgart-Hohenheim. Am vorvergangenen Wochenende wurde er zum neuen Präsidenten des Studienzentrums Weikersheim gewählt.


 
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