© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/01 01. Juni 2001

 
"Verbote führen zu Grauzonen"
Der Mediziner Wolfgang Engel über Grenzen und Möglichkeiten der Gentechnik und die zwangsläufige Niederlage ihrer Gegner
Moritz Schwarz

Herr Professor Engel, der Bundeskanzler hat gerade einen "Nationalen Ethikrat" berufen, der Bundespräsident widmete seine diesjährige Berliner Rede der Gentechnik und in dieser Woche debattiert der Bundestag das Thema. Inwieweit ist der Mensch tatsächlich schon manipulierbar?

Engel: Wenn in der Öffentlichkeit über die Gentechnik gesprochen wird, dann herrscht meistens völlige Begriffsverwirrung. Man muß einmal Klarheit darüber gewinnen, was Gentechnik eigentlich ist. Die Verfahren, über die derzeit am meisten gesprochen wird, das sind "Präimplantationsdiagnostik", "Klonen" und "Stammzellen", haben primär mit Gentechnik gar nichts zu tun. Bei diesen Verfahrensweisen handelt es sich um "embryologische", nicht um gentechnische Verfahren.

Was genau ist dann Gentechnik?

Engel: Gentechnik bedeutet das Operieren mit den Genen, zum Beispiel sie zu verändern oder sie zu aktivieren oder zu deaktivieren. Beim Klonen aber wird ja gar nicht auf der Ebene der einzelnen Gene eingegriffen, sondern auf embryonaler Ebene, also der Ebene der Zelle. Also zum Beispiel "Dolly", das berühmte Klon-Schaf. Dolly wurde nicht durch einen Eingriff in die Gene geklont, sondern durch einen Eingriff in die Zelle: Der Eizelle eines Schafes wurde der Zellkern entnommen und durch den Kern einer Zelle aus einer kultivierten Euterzelle ersetzt. Daraus wurde ein ganzes Schaf, ohne aber daß irgend jemand in die Gene eingegriffen hätte. Manipuliert wurde der Embryo, nicht der Zellkern selbst. Anders ist das mit der berühmten Maus, der man ein menschliches Ohr "angezüchtet" hat: Da wurden die für das Wachstum des Ohres notwendigen Erbinformationen in den Zellkern der Eizelle der Maus hineinmanipuliert.

Sind denn die so entwickelten Verfahren auch einfach auf den Menschen übertragbar?

Engel: Es gilt, daß man alles, was man embryologisch oder gentechnisch bei der Maus machen kann, auch beim Menschen machen kann.

Die Manipulation auf embryonaler Ebene, also das Klonen, ist doch schon länger bekannt. Warum war Dolly dann so ein Fortschritt?

Engel: Klonen ist ja eigentlich nicht mehr, als auch die Natur bei eineiigen Zwillingen macht. Bei verschiedenen Säugetieren hat man in der Vergangenheit aus einzelnen Zellen des ganz frühen Embryos (zum Beispiel vierzelliger Embryo)genetisch identische Individuen erzeugt (zum Beispiel Seidel 1952 bei Kaninchen). Die Klonung genetisch identischer Individuuen unter Verwendung der Zellkerne aus differenzierten Zellen (zum Beispiel Hautzellen) war vor Dolly als unmöglich angesehen worden. Es wurde dann aber ein Verfahren gefunden, auch bei Säugern zu machen, was man zuvor schon mit Lurchen und Fröschen erreicht hatte. Um Lebewesen nach der Dolly-Methode zu klonen, müssen Sie nur die Eizelle manipuliern, es ist nicht notwendig, die Gene zu verstehen. Genau das aber ist Gentechnik, sie verlangt letztendlich, daß man die Funktionen einzelner Gene erkennt. Im Moment aber kennen wir die Funktionen der Gene des menschliche Erbgutes noch lange nicht. Zwar hat das "Humane Genom Projekt" bis jetzt etwa 95 Prozent unserer Gene aufgeschlüsselt, aber noch lange nicht entschlüsselt. Das ist wie ein Buch, das vor Ihnen liegt, einen geordneten Text enthält, Sie aber die Sprache, in der es geschrieben ist, nicht verstehen. Diese zu entschlüsseln wird die Arbeit der nächsten zehn bis zwanzig Jahre sein.

Die Gentechnik hat also noch kaum richtig begonnen. Dennoch findet sie bereits Anwendung?

Engel: In begrenztem Rahmen. Da sich nämlich die Therapie von genetisch bedingten Krankheiten mittels Eingriff in bestimmte Gene noch im experimentellen Stadium befindet, beschränkt sich die Gentechnik in bezug auf den Menschen bislang auf den Bereich der Diagnostik. Zum Beispiel die Erkennung von Genveränderungen, die für den späteren Ausbruch bestimmter Krankheiten verantwortlich sind. Das ist heute sowohl beim geborenen wie beim ungeborenen Menschen möglich. Die zweite Anwendungsmöglichkeit ist, vorher zu erkennen, wie bestimmte Menschen auf bestimmte Medikamente reagieren; das ist die "Pharmakogenetik". Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist das "die Zukunft". Denn dank dieses Verfahrens kann nicht nur gezielter, sondern auch effizienter konventionell therapiert werden. Und vor allem wird damit künftig ausgeschlossen – was ja zur Zeit leider gar nicht so selten der Fall ist –, nämlich daß Menschen aufgrund einer medikamentösen Behandlung Schaden nehmen oder gar sterben.

Das heißt, wenn man vom ethischen Problem der Manipulation am Menschen spricht, so ist wegen des Forschungsstandes weniger die Gentechnik als die embryonale Forschung gemeint?

Engel: Nehmen Sie die Stammzellen, da geht es darum, aus Embryonen vielseitig verwendbare Zellen zu züchten. Wegen der Verwendung von Embryonen ist vor allem das ein "Reizthema" in der Debatte. Man muß aber über das ganze Verfahren Bescheid wissen, um auch hier die Frage nach der Ethik wirklich beantworten zu können. Es gibt drei Sorten von Stammzellen. Zum einen die "totipotenten" Stammzellen, das sind die Zellen eines Embryos im Acht-Zellen-Stadium. So lange kann man noch aus jeder der Zellen wieder ein komplett neues Tier machen. Danach ist das nicht mehr möglich. In der weiteren Entwicklung des Embryos entsteht die sogenannte Plastozyste (bei der Maus drei bis fünf Tage, beim Menschen fünf bis sechs Tage nach der Befruchtung). In diesem Stadium kann man die sogenannten "embryonalen Stammzellen" gewinnen und züchten. Diese Zellen sind in der Lage, jede gewünschte Zellenart zu bilden. Ich kann also aus diesen Stammzellen je nach Bedarf Muskel-, Haut-, oder Leberzellen etc. "züchten", um damit einem Patienten zu helfen. Und nun kommt die dritte Form der Stammzellen: Diese finden sich in den sogenannten "adulten Organen", also den Organen erwachsener Menschen. Aus diesen Zellen, zum Beispiel aus den Stammzellen im Knochenmark, lassen sich zwar nicht alle – wie bei den embryonalen Stammzellen –, aber immer noch diverse andere Formen von Zellen, etwa Herzmuskelzellen, machen. Wie gesagt, ist die Gewinnung und Zucht von embryonalen Zellen in Deutschland sehr umstritten, weil sie menschliche Embryonen benötigt. Jetzt kommt aber der Clou in puncto Ethikdebatte: Wenn die Forschung erst einmal das Werden von Zellen verstanden hat – also: Wie wird welche Zelle was? –, dann können wir diesen Prozeß des Werdens in absehbarer Zeit auch rückwärts vollziehen und zum Beispiel aus einer fertigen Hautzelle embryonale Stammzellen machen. Wenn wir das können, dann brauchen wir auch keine Embryonen mehr, um Menschen mit Zelltherapien zu helfen. Zum Beispiel bei einem Parkinson-Kranken: Ihm fehlen dopaminerge Neurone im Gehirn – also "verwandelt" man etwa eine Hautzelle zurück in eine Stammzelle und entwickelt diese dann zu einer dopaminergen Nervenzelle. Diese transplantiert man dann dem Patienten an einer bestimmten Stelle im Gehirn und hat damit diesen Patienten für viele Jahre geheilt, ohne daß dazu Material eines Embryos notwendig ist.

Zunächst aber müssen Sie noch Embryonen verwenden.

Engel: Zunächst ja, aber wenn die Wissenschaft in Deutschland von diesen Techniken abgekoppelt wird, bedeutet das nicht nur, daß wir den Anschluß verlieren und die Forscher aus Deutschland weglaufen, sondern auch, daß wir später einmal die für unsere Patienten notwendigen Ressourcen nicht haben werden.

Es besteht aber doch auch die erhebliche Gefahr eines Mißbrauchs ...

Engel: Sicherlich, aber weil die Menschen lieber Vorurteile haben, statt sich zu informieren und dann differenziert zu argumentieren, kennen sie gar nicht die wirklichen Konsequenzen, sondern nur irgendwelche übertriebenen Schreckensszenarien. Zum Beispiel bezüglich des Klonens: Sie haben Angst, ihre Persönlichkeit könnte kopiert werden. Doch das geht natürlich – auch beim perfektesten Cloning – nicht. Das sehen sie an den eineiigen Zwillingen. Diese sind zwar genetisch, nicht aber als Personen identisch. Nicht einmal phänotypisch, also bezüglich des Aussehens, sind sie gleich, sondern nur ähnlich. Deshalb gibt es sogenannte Korrelationskoeffizienten: man stellt fest, sie sind zu sechzig Prozent gleich oder nur zu vierzig. Die Umwelt spielt ergo eine ganz entscheidende Rolle. Würden Sie mich jetzt fünfzigmal klonen, so hätten Sie keineswegs fünfzig identische Kopien von mir, sondern lediglich fünfzig Varianten. Das Argument mit den berühmten gleichgeschalteten, geklonten Soldaten etwa zeigt also nur die völlige Unwissenheit der Leute.

Da kommt aber doch die Gentechnik ins Spiel: Während die embryonalen Verfahren nur Lebewesen auf gleicher Ausgangsbasis schaffen können – die übrige Entwicklung der Wesen aber wieder dem natürlichen Lauf der Dinge überlassen müssen, wird es mittels gentechnischen Eingriffe möglich sein, auch die Entwicklung zu manipulieren.

Engel: Alle Eigenschaften, die den Menschen als Mensch auszeichen, also Charakter, Intelligenz, Sozialverhalten, Persönlichkeit sind Merkmale, die erstens von vielen verschiedenen Genen bestimmt werden und zweitens dennoch umweltabhängig sind. Von keinem dieser Merkmale kann man heute die verantwortlichen Gene benennen. Da außerdem so viele Gene miteinander interagieren müssen, um das Merkmal zu bilden, gilt die alte Regel: "Es gibt mehr kriminelle Menschen aufgrund ihrer Umwelt als aufgrund ihrer Gene." Gene sind also wichtig, aber nicht entscheidend. Daher habe ich nicht einmal Angst davor, sollten wir eines Tages tatsächlich in der Lage sein, menschliche Merkmale genetisch zu manipulieren.

Aber werden diese neuen Möglichkeiten unsere Anschauung vom Leben nicht entscheidend verändern und langfristig gefährden?

Engel: Es besteht natürlich kein Zweifel daran, daß wissenschaftlich gesehen das menschliche Leben mit der Befruchtung der Eizelle entsteht. Ob man nun daran forschen darf oder nicht, entscheidet nicht die Wissenschaft, sondern die Gesellschaft. Leider sind die Deutschen sehr komplizierte Leute. Die Präimplantationsdiagnostik, also das Erkennen eines genetisch bedingten Defektes bei dem Embryo besonders gefährdeter Eltern, wird in Deutschland nicht praktiziert. Das heißt, wenn Sie nun einen Defekt feststellen, dann haben Sie keine Möglichkeit, daraus eine Konsequenz zu ziehen. Auch einen solchen Embryo müssen Sie der Frau transferieren. Dann kommt die Frau aber in die zwölfte Schwangerschaftswoche, und daraufhin darf nun doch wieder – wegen einer medizinischen Indikation – abgetrieben werden. Das klingt für mich nicht überzeugend. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn eine Maßnahme, die zwölf Wochen später durch den Eingriff eines Arztes völlig akzeptiert ist, zuvor, wenn ich sie als Genetiker vornehme, als "Selektion" verschrien wird. Wo ist der hohe ethische Anspruch bei der Abtreibungsregelung? Die Engländer haben dagegen entschieden, bis zum vierzehnten Tag darf an einem Embryo geforscht werden. Dort sind also heute schon Präimplantationsdiagnostik, therapeutisches Klonen und die Gewinnung von Stammzellen möglich. Klar ist, es muß Regelungsmechanismen geben, um Mißbrauch vorzubeugen: Regelungsmechanismen, aber keine Verhinderungsmechanismen.

Das Problem ist, daß sich mit der Einführung neuer Regelungen für neue Möglichkeiten auch im Laufe der Zeit das Bewußtsein der Menschen verändert. So wird ein Schritt, der uns heute noch inakzeptabel scheint, der nächsten Generation vielleicht nur noch folgerichtig erscheinen. Unsere Entscheidungen heute mögen durch strenge Auflagen noch vertretbar sein, sie erodieren jedoch unser Bild vom Menschen und der Würde des Lebens. Ihre Argumentation mit der Abtreibung funktioniert genau nach diesem Prinzip.

Engel: Bei unseren Nachbarn, etwa Großbritannien oder Belgien, gibt es diese Möglichkeiten doch auch. Mißbrauch ist immer möglich, dennoch sind aber doch Länder wie Belgien oder Großbritannien nicht "schlechter" als wir. Warum soll es den Deutschen nicht möglich sein, verantwortungsvoll damit umzugehen?

Tatsächlich haben diese Länder schon ein anderes Menschenbild als wir: Amerika praktiziert etwa die Todesstrafe, in Großbritannien werden Menschen ab einem gewissen Alter in kostenintensiven Bereichen nicht mehr umfassend medizinisch versorgt, weil es sich "nicht mehr lohnt", und Holland hat unlängst erst die Sterbehilfe eingeführt. Wollen wir wirklich ein Menschenbild wie das der Amerikaner, Holländer oder Briten?

Engel: Es geht ja nicht darum, die Regelungen dieser Länder zu kopieren. Es ist doch durchaus möglich, eigene Regelungen einzuführen. Wichtig ist nur, die Forschung nicht ganz zu verhindern. Die Konsequenz heißt sonst: Warten wir mal ab, wie diese Gefahr in Ländern wie Amerika oder England gemeistert werden wird. Aber wenn wir dann sehen, daß sie gemeistert worden ist, und wir uns dann auf den Weg machen wollen, wird es aus wissenschaftlicher Sicht zu spät sein für Deutschland. Wenn Sie für Deutschland eine Regelung verhindern, werden Sie uns wirtschaftlich und therapeutisch isolieren. Die Folge wird sein, daß die Deutschen, die gentechnische Hilfe brauchen, ins Ausland fahren werden. Es wird zum selben Prozeß kommen, wie in der Abtreibungsfrage auch. Am Ende kommen sie doch nicht um eine Regelung herum, nur sind wir dann zusätzlich noch in einer viel schlechteren Position.

Was halten Sie von der Berliner Rede des Bundespräsidenten?

Engel: Wenn der Bundespräsident unsere Verfahren "Selektion" nennt, dann kann ich nur zurückfragen, wieso die Abtreibung von Kindern etwa mit Down-Syndrom in der fünfzehnten Woche oder noch sehr viel später in der Schwangerschaft keine Selektion ist?

Halten Sie den neuen Ethikrat des Bundeskanzlers für ein akzeptables Instrument der Regelung?

Engel: Das ist natürlich eine Frage der Interessenvertreter in diesem Gremium. Und dann verläuft das natürlich nach dem üblichen, vorhersehbaren Muster: Erstmal werden sich die Meinungen dort polarisieren und dann neutralisieren. Das Problem ist, daß Sie in Gesprächen mit Politikern und Verantwortlichen unentwegt feststellen, daß diese über die Gegenstände und die Konsequenzen möglicher Entscheidungen kaum informiert sind bzw. diese kaum bedacht haben. Ich erinnere hier an das jahrelange Verbot der gentechnischen Herstellung von menschlichem Insulin. Deshalb würde die Kontrolle etwa durch eine Ethikkommission bei der Bundesärztekammer viel besser funktionieren. Verbote führen nur zu Grauzonen und dazu, daß die Dinge schließlich doch kommen, dann aber um so schwerer zu kontrollieren sind.

Ist es Ihnen persönlich aber nicht doch unheimlich, welche Möglichkeiten die Wissenschaft inzwischen hat?

Engel: Ich finde, wir sollten einfach den Mut zu pragmatischen Lösungen finden: Es sollten für Eingriffe triftige Gründe vorliegen und alle Maßnahmen unter strengen Regelungen erfolgen. Ich bin überzeugt, daß früher oder später die Einführung all dieser Verfahren auch in Deutschland unausweichlich kommen wird!

 

Prof. Dr. Wolfgang Engel geboren 1940 in Ludwigshafen, studierte Medizin und Psychologie in Heidelberg und Freiburg. Ab 1968 lehrte er am Institut für Humangenetik in Freiburg. Seit 1977 ist er Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Göttingen. Seine Interessensschwerpunkte sind die Funktionsanalyse von Genen, die Reproduktionsgenetik und die Verhaltensgenetik. Engel ist außerdem Mitglied im Arbeitskreis "Präimplantationsdiagnostik" des wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer.

 

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