© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/01 25. Mai 2001

 
Die Anmaßung der Intellektuellen
von Georg Willig

In seinem Gespräch vom 23. März dieses Jahres mit der JUNGEN FREIHEIT sagte Ephraim Kishon: "Ich kann Ihnen ebenfalls keine rationale Erklärung dafür geben, warum im Westen die Presse, die Jurys, die Komitees allesamt linksgerichtetet sind. Ich habe nichts gegen Linksgerichtete, eher schon gegen Rechtsgerichtete, aber das verstehe ich nicht. Als ich 1949 aus Ungarn nach Israel geflüchtet war und laut gesagt habe, der Stalinismus sei ein schreckliches System, wurde ich von diesem Moment an boykottiert. Diese Meinung galt als rechts und reaktionär. Ich frage mich seither, wie ist es nur möglich, daß fast alle europäischen Intellektuelle Anhänger des stalinistischen oder maoistischen Systems waren."

Wir wollen versuchen, Herrn Kishon eine Antwort auf diese Frage zu geben, denn er ist ja nicht der einzige, der diese Tatsache nur schwer verstehen kann.

In der Zeit des Kalten Krieges fand in den intellektuellen Kreisen von Paris der Satz von Etienne Barilier: "Ich möchte lieber Unrecht haben mit Sartre als Recht mit Aron" Beifall und Zustimmung bei den meisten von ihnen. Jean-Paul Sartre, der vieles geschrieben hatte, aber eben auch dies: "Die Freiheit der Kritik ist in der UdSSR total", "Der Marxismus ist der unüberschreitbare Horizont unserer Zeit", "Es gab keine Konzentrationslager im Rußland Stalins" und "Jeder Antikommunist, aus welchen Gründen er es auch sei, ist ein Hund": dieser Sartre (1905–1980) fand den Beifall der linken Intelligenz. In die Ecke gestellt und für mehr als ein Jahrzehnt übersehen wurde dagegen Raymond Aron (1905–1885) und die wenigen, die ähnlich wie er dachten. Er wurde zur bete noire der französischen Linken, weil er einen individualistisch geprägten Liberalismus vertrat.

Aber Sartre war ja nicht der erste, der im sowjetischen Experiment die Zukunft einer besseren Menschheit sah. So fand beispielsweise Georges Orwell 1945 in England für seine "Animal Farm", in der die sowjetische Diktatur sarkastisch enthüllt wird, nur schwer einen Verleger. Auch dort waren in den intellektuellen Kreisen die Sympathien für das Rußland Stalins vorherrschend. Und in Deutschland beschrieb Helmut Schelsky Jahre später in seinem Buch "Die Arbeit tun die anderen" (1975) den "Klassenkampf und die Priesterherrschaft der Intellektuellen".

Der Ursprung dieses Denkens liegt im "konstruktivistischen Rationalismus" und im Unverständnis eines "evolutionistischen Rationalismus". Man glaubt die Welt so konstruieren zu können, wie man es für vernünftig und gerecht hält. Sie glauben, mit dem Marxismus oder einer ähnlichen sozialistischen Konstruktion Gleichheit und Freiheit schaffen zu können, und wollen nicht verstehen, daß sich jemand dagegen sträuben kann. Dabei übersehen sie jedoch, daß die Auswirkungen ihrer Handlungen Ergebnisse hervorbringen, mit denen sie nicht gerechnet haben.

Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Friedrich A. Hayek (1899–1992) bemerkte in seinem letzten Buch "Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus" (1988) zu dieser Frage: "Im Grunde läuft die zentrale These meiner Argumentation – daß die Moral, einschließlich insbesondere unsere Regeln betreffend Eigentum, Freiheit und Gerechtigkeit, nicht eine Schöpfung des menschlichen Verstandes ist, sondern einer eigenständigen zweiten Ausstattung, die dem Menschen im Zuge der kulturellen Entwicklung zuteil wurde – der vorherrschenden Geisteshaltung des 20. Jahrhunderts zuwider. Der Einfluß des Rationalismus war tatsächlich so gründlich und weitreichend, daß im allgemeinen gilt, je intelligenter ein gebildeter Mensch ist, mit um so größerer Wahrscheinlichkeit ist er oder sie nicht nur Rationalist, sondern vertritt er oder sie auch sozialistische Ansichten (gleichgültig, ob er oder sie genügend doktrinär ist, um seinen oder ihren Auffassungen irgendein Schild umzuhängen, einschließlich ’sozialistisch‘). Je höher wir auf der Leiter der Intelligenz hinaufklettern, um so mehr wir uns mit Intellektuellen unterhalten, um so wahrscheinlicher stoßen wir auf sozialistische Überzeugungen. Rationalisten sind in der Regel intelligent und intellektuell; und intelligente Intellektuelle sind in der Regel Sozialisten …"

Müssen also wir anderen alle zugeben, daß wir dümmer als sie sind? Aber lesen wir bei Hayek noch ein Stückchen weiter, denn sicher wird er sich ja nicht für dumm halten, obwohl er kein Sozialist ist.

"Das erste Erstaunen über die Entdeckung, daß intelligente Menschen in der Regel Sozialisten sind, legt sich, sobald man begreift, daß intelligente Menschen in der Regel die Intelligenz natürlich überschätzen und annehmen, wir alle verdanken die Vorteile und Möglichkeiten, die unsere Kultur bietet, eher einem vorsätzlichen Entwurf als der Befolgung traditioneller Regeln, und also annehmen, mit Hilfe der Vernunft könnten wir durch noch mehr intelligente Überlegungen und noch zweckmäßigere Gestaltung und ’rationale Koordination‘ unserer Vorhaben alles, was uns an ihnen unerwünscht ist, beseitigen. Das erzeugt eine positive Einstellung zu zentraler Wirtschaftsplanung und Kontrolle, die das Herzstück des Sozialismus ausmachen. Natürlich werden Intellektuelle für alles, was sie tun sollen, Erklärungen verlangen, und werden sich sträuben, Gebräuche zu übernehmen, nur weil diese zufällig in jenen Gemeinschaften vorherrschten, in die sie zufällig hineingeboren wurden; und das wird sie zum Konflikt mit denjenigen (oder zumindest zu deren Geringschätzung) führen, die geltende Verhaltensregeln widerspruchslos hinnehmen."

Weiter heißt es bei Hayek: "Außerdem werden sie sich verständlicherweise auf die Seite von Wissenschaft und Vernunft schlagen wollen und damit auf die Seite des außerordentlichen Fortschritts, den die Naturwissenschaften in den letzten paar Jahrhunderten erzielt haben; und da sie gelehrt wurden, bei der Wissenschaft und dem Gebrauch der Vernunft gehe es nur um Konstruktivismus und Szientismus (und eben nicht um ’evolutionäre‘ Vernunft, also um Anpassung an sich verändernde Entwicklungen), fällt es ihnen sowohl schwer, zu glauben, es könne irgendein nützliches Wissen geben, das nicht aus vorsätzlichem Experimentieren entstanden ist, als auch, irgendeine Tradition gelten zu lassen – außer ihrer eigenen Vernunfttradition."

Die wirklichen Bannerträger des konstruktivistischen Rationalismus und Sozialismus sind, wie Hayek bemerkt, nicht die Wissenschaftler, sondern eher die sogenannten "Intellektuellen", die ich an anderer Stelle unfreundlich als professionelle "Altwarenhändler in Ideen" genannt habe: "Lehrer, Journalisten und Medienleute, die in den Korridoren der Wissenschaft Gerüchte aufschnappen und sich daraufhin für die Repräsentanten modernen Denkens halten."

Aus diesem Machbarkeitswahn entstehen dann solche Bekenntnisse wie das des frühen George Orwell, der sich ein paar Jahre später anders besinnen sollte und behauptete: "Jeder, der sein Hirn gebraucht, weiß ganz genau, daß es im Bereich des Möglichen liegt, daß die Welt zumindest potentiell extrem reich wird, so daß wir sie so entwickeln könnten, wie sie zu entwickeln wäre, und wir allesamt fürstlich leben könnten, wenn wir nur wollten." Hayek stellt dagegen die Einsicht: "Der Mensch wird alles, was er wird, ohne es zu verstehen."

Mit solchen wenig erhebenden Einsichten, auch wenn sie das Ergebnis eines sechzigjährigen strengen Nachdenkens über die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft sind, kann sich der moderne Intellektuelle nicht abfinden. Er bildet sich ein, die Dinge im Großen – was etwas ganz anderes ist als die vernünftige Bewältigung der einzelnen Probleme – selbst planen und entwickeln zu können.

Was hinter dieser Anmaßung steht, beschreibt auch der polnische Philosoph Leszek Kolakowski (geb. 1927), Verfasser eines dreibändigen Standardwerks über "Die Hauptströmungen des Marxismus" (1976): "Jeder Mensch hat das Verlangen, irgendwo dazuzugehören. Als beste Lösung dieses Dilemmas bietet sich die geistige Identifizierung mit dem Los der Verlierer, der Unterdrückten an. Der Marxismus bietet die beste Methode an, diesen Konflikt zu formalisieren (d. h. der Intellektuelle möchte sich ja gleichzeitig als Elite betrachten) und dermaßen die innere Zerrissenheit zumindest teilweise zu heilen. Sie hoffen, irgendwann eine Legimitation innerhalb der Gesellschaft zu finden, die ihnen nach ihrem Dafürhalten bisher fehlte. Der Intellektuelle möchte gehört werden, und die einzige institutionelle Garantie, daß er gehört wird, liegt in seiner Eingliederung in ein totalitäres Establishment. Daraus erklärt sich die Bereitschaft vieler Intellektueller, in einem totalitärem System die Stelle eines Hofdenkers oder Hofphilosophen anzunehmen." Da muß man sich nicht wundern, wenn man erfährt, daß bis zu 30.000 Informanten in der ehemaligen Bundesrepublik – in einem doch wohl auch für Intellektuellen sehr freiem Land –, für die Stastssicherheit in der ehemaligen DDR – also einem für Intellektuelle nicht sehr freiem Land –, die sie für das bessere, also sozialistische Deutschland hielten, tätig waren: darunter nicht wenige Politiker, Wissenschaftler, Journalisten.

Auch in Gesellschaften, die den Totalitarismus längst hinter sich haben, zeigen sich Züge der von Kolakowski beschriebenen Haltung. So konnte man kürzlich erst bei einem Gespräch "Zur Person" zwischen Günter Gaus und dem Präsidenten der Akademie der Künste, Walter Jens, von diesem hören, daß es die Aufgabe des Schriftstellers sei, sich für die "Erniedrigen und Beleidigten" einzusetzen, sich auf die Seite der "Armen" zu stellen, also nicht, wie man das vielleicht naiverweise gedacht hätte, zuerst einmal gute Bücher zu schreiben. Und was, wenn nicht ein Honorar für Jens, beispielsweise, kommt für den arbeitslosen Bauarbeiter dabei heraus, wenn der andere eine schöne Rede hält?

In ihrem sozialpolitischen Machbarkeitsglauben, beflügelt oft – und das wird niemand abstreiten – durch bewunderungswürdige ethische Überzeugungen und rationale Überlegungen, übersehen sie, "daß die gesamte Ordnung der Gesellschaft, und auch das, was wir Kultur nennen, das Produkt der individuellen Anstrengungen ist, die niemals dieses Ziel gehabt haben". Sie sind "zu diesem Ziel kanalisiert worden durch die Institutionen, die Praktiken und die Regeln, die ihrerseits nicht das Ergebnis von bewußten Überlegungen sind, sondern deren Erfolg das Überleben und die Entwicklung gesichert haben." (Hayek am 23. März 1966 vor der British Academy)

Dieser Glaube an einen konstruktivistischen Rationalismus, der sich über alle Erfahrungen seines bisherigen Scheitern hinwegsetzt, ist wie eine Religion, die ihre Heiligen hat. Credo quia absurdum est – "ich glaube, weil es absurd ist." Zu diesen Heiligen, zumindest zu ihrem Fußvolk, wollten – und wollen wohl auch heute noch – viele von ihnen gehören. Sie wollen eine "strahlende Zukunft", koste es, was es wolle: wozu in der demokratischen Zeit auch die prosaische Verschuldung gehört. So schrieb vor kurzem noch der Leitartikel der kommunistischen L’Humanité: "85 Millionen Tote verdunkeln in keiner Weise das kommunistische Ideal. Sie stellen nur ein beklagenswerte Abweichung dar." Man denkt in diesen Kreisen nicht nur in Frankreich so.

In seinem im Jahre 2000 erschienenen Buch "La grande Illusion: Essay über das Überleben der sozialistischen Utopie" schreibt der französische Philosoph Jean-François Revel: "Wenn die demokratischen Linke wahrhaftig und wirklich über ihre Vergangenheit nachgedacht und mit der kommunistischen Vergangenheit gebrochen hätte, hätte dann Madame Danielle Mitterrand während der Erinnerungsfeier zum 20. Jahrestag der ’samtenen Revolution‘ in Prag erklärt, daß das Verschwinden des totalitären Kommunismus den Weg zu einer noch schlimmeren Geißel eröffnet habe: dem ’liberalen Totalitarismus‘, der der ganzen Welt aufgedrängt wird?"

Die linken Intellektuellen wollen von ihrem Traum, den man ihnen seit Marx versprach, nicht lassen, eine Welt der Gleichheit und Freiheit herzustellen. Goethe schrieb vor 200 Jahren in seinen "Maximen und Reflexionen": "Gesetzgeber und Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Charlatane."

 

Jean-Paul Sartre (M) eingerahmt von dem Baader-Meinhof-Anwalt Klaus Croissant (l.) und Daniel Cohn-Bendit: Der weltbekannte französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre bezichtigte auf einer Pressekonferenz am 4. Dezember 1974 in Stuttgart die deutschen Justizbehörden der Folter und forderte die Bildung eines Internationalen Komitees zur Verteidigung der deutschen Terroristen. Zuvor hatte Sartre den in Stammheim in Untersuchungshaft sitzenden RAF-Terroristen Andreas Baader zu einem einstündigen Gespräch besucht.

 

Georg Willig schrieb zuletzt im Kulturteil der JUNGEN FREIHEIT über Kulturmacher und Kulturfeinde (JF 22/00).


 
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