© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/01 25. Mai 2001

 
Gegen Orthodoxie und Kirchentum
Zu Paul Gerhardts 325. Todestag: Strenger lutherischer Christ und empfindsamer Dichter geistlicher Lieder
Wiebke Dethlefs

Als am 27. Mai 1676 (nach der Kirchenbucheintragung am 7. Juni) in Lübben im Spreewald Paul Gerhardt als "treufleißiger und wohlbekannter Archidiakonus" mit 70 Jahren verstarb, hinterließ sein Abscheiden in der Öffentlichkeit keine nennenswerte Reaktion. Es scheint, daß die Person des Dichters bereits damals den Zeitgenossen aus den Augen gerückt war, und vermutlich war den wenigsten klar, daß der wohl bedeutendste Dichter protestantischer geistlicher Lieder neben Martin Luther von ihnen gegangen war. Paul Gerhardts insgesamt 133 Lieder geleiten heute noch durch das ganze Kirchenjahr und sind selbst Menschen ohne christlichen Bindungen bekannt. Eins der bekanntesten Adventslieder ist sein "Wie soll ich dich empfangen", zu Weihnachten erklingt "Fröhlich soll mein Herze springen" oder "Ich steh’ an deiner Krippen hier". Zum Neujahrstag singt man "Nun laßt uns gehen und treten" und zur Passionszeit "Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld", wobei einige von Gerhardts Passionsliedern Nachdichtungen lateinischer Hymnen darstellen wie "O Haupt voll Blut und Wunden". Sein "Befiehl du deine Wege", sein "Gib dich zufrieden und sei stille" sind vielen Christen Trost und Kraft und sein Heimweh nach einem himmlischen Vaterhaus manifestiert sich ergreifend in seinem Pilgerlied "Ich bin ein Gast auf Erden". Doch neben rein geistlicher Lyrik entstanden in "Geh aus, mein Herz und suche Freud" und "Nun ruhen alle Wälder" (gesungen auf Heinrich Isaacs berühmte Melodie zu "Innsbruck, ich muß dich lassen") die wohl bezauberndsten Beispiele deutscher Naturpoesie des Barock, die gleichsam Volksliedcharakter gewonnen haben. Der Bilder- und Ausdrucksreichtum seiner Lieder sucht zu allen Zeiten in der geistlichen Poesie seinesgleichen.

Doch eine Kehrseite der Volkstümlichkeit und Beliebtheit von Gerhardts Liedern mag freilich eine Fülle von Mißdeutungen und Vereinnahmungen für eine (und seine) angeblich undogmatisch fromme und schlichte Religiosität sein, wodurch er in einen Gegensatz zur lutherischen Orthodoxie und auch zum Barockzeitalter selbst gerückt wird. Diese Zeit jedoch, die des Dreißigjährigen Krieges, prägte seine erste Lebenshälfte und hatte auf das Schaffen des am 12. März 1607 in Gräfenhainichen zur Welt Gekommenen nicht unwesentlichen Einfluß. Der Vater war Bürgermeister und Gastwirt, verstarb jedoch schon, als Paul zwölf Jahre alt war. Nach 1622 bezog er die Grimmaer Fürstenschule und 1628 sieht man ihn bereits als studiosus theologiae in Wittenberg, wo er sich mindestens sechs Jahre aufhielt. Dieses Studium erfolgte in strengster Bindung an die Bekenntnisschriften des sogenannten "Wittenberger Konkordienbuchs" von 1580, in dem die Studenten sogar auf die Konkordienformel von 1577 (der zur Beilegung inner-lutherischer Auseinandersetzungen verfaßten einheitlichen lutherische Lehrbekenntnis) mit damit verbundener schärfster Abgrenzung gegen die reformierte Kirche eines Calvin, Zwingli oder Oekolampad vereidigt wurden.

Ab etwa 1643 erscheint Paul Gerhardt erstmals in Berlin, nachdem Wittenberg und seine Heimatstadt in den Jahren davor durch Kriegshandlungen schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden, um dort als Hauslehrer zu wirken. In dieser Zeit entstehen die ersten Dichtungen, meist lateinische Gelegenheitsgedichte, doch auch bereits deutsche geistliche Lieder, die erstmals 1647 in Johann Crügers "Praxis pietatis melica" veröffentlicht wurden. Ende 1651 wurde er zum Propst im märkischen Mittenwalde und Sommer 1657 in Berlin zum Diakonus an der Nikolaikirche ernannt. Diese Zeit war geprägt von schweren Lehrstreitigkeiten zwischen den lutherischen und den reformierten (calvinistischen) Theologen und Predigern der Stadt. Im Heidelberger Katechismus der Calvinisten wird das Grunddogma der Eucharistie, daß "aus Brot und Wein der wirkliche Leib Christi werde", geleugnet und die Heilige Messe eine "Abgötterei" genannt, womit sich die Reformierten hierbei u.a. nicht nur gegen die römisch-katholische, sondern auch gegen die lutherische Messe wenden.

Zu Gerhardts neuen Amtsaufgaben in Berlin gehörte die Ausarbeitung von lutherischen Argumenten für das vom Großen Kurfürsten ausgeschriebene Religionsdisput zwischen den beiden Glaubensrichtungen. Nachdem Gerhardt fünf Jahre lang sein Amt zu "seyner und dero Höchster Zufriedenheyt" erfüllen konnte, wurde er jedoch direkt in die Glaubenskämpfe hineingezogen. Seine Wittenberger Ausbildung hatte ihn zu einem der kompromißlosesten Vertreter der lutherischen Orthodoxie werden lassen. Er war jetzt im tiefsten Gewissen um die Reinheit der Lehre durch die irenischen Bestrebungen seines Landesherrn besorgt und lehnte alle diesbezüglichen synkretischen Bestrebungen mit den scharfen Worten ab, er könne "die Calvinisten nicht für Christen halten". Als aber Friedrich Wilhelm auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen offen für die Reformierten Partei ergriff und durch zwei Edikte, die den Kirchenfrieden wieder- herstellen sollten, die lutherischen Geistlichen zu mehr Toleranz und Anerkennung der reformierten Lehre anwies, widersetzte sich Gerhardt und verweigerte seine Unterschrift unter den kurfürstlichen Erlaß. Denn die Forderung, die der Kurfürst stellte, war erstens eine einseitige, da er von seinen Reformierten keine entsprechende Erklärung verlangte, und zweitens war für Gerhardt die Echtheit des evangelischen Glaubens nur in der lutherischen Lehre verwirklicht. Wurde dafür in den jahrelangen Glaubenskriegen gestritten, um dann doch zurückzuweichen? Und würden einem ersten Nachgeben nicht noch weitere Forderungen folgen? Paul Gerhardt jedenfalls erkannte aufgrund seiner Verpflichtung auf die Konkordienformel die kurfürstliche Verordnung nicht an, während viele seiner Amtskollegen an ihr Amt und Brot dachten und sich nach langem Hin und Her letztendlich dem Gebot des Landesherrn fügten. Dieser enthob nun den unbeugsamen Lutheraner am 13. Februar 1666 seines Amtes, setzte ihn aber ein Jahr später aufgrund vieler Bittschriften der Bürgerschaft wieder ein. In diesen hieß es unter anderem: "er hat alle und jede Zeit zum wahren Christentum durch Leben und Lehre geführet und keine Seele mit Worten oder Werken angegriffen. Was würde denn aus uns werden, wenn wir die Frommen nicht behalten und, so mit ihrem Gebet bisher noch gegen den Zorn Gottes gestanden, nicht mehr bei uns haben sollten?"

Doch Paul Gerhardt konnte nach seiner Wiedereinsetzung nicht sonderlich glücklich werden. Zwar erließ ihm der Kurfürst die Unterschrift unter das Toleranzedikt, erwartete aber dennoch, daß er sich der Verordnung füge, was praktisch deren Anerkennung gleichkommen sollte. Gerhardt nun verzichtete innerhalb seines Amts auf die Predigertätigkeit, worauf seitens des Magistrats eine Eingabe mit der Bitte an den Kurfürsten erfolgte, ihm doch den Gehorsam gegen die neuen Verordnungen zu erlassen. Da aber der große Kurfürst auf dieses Ansinnen nicht einging, mußte Paul Gerhardt um seines Gewissens und protestantischen Bekenntnisses willen im Februar 1667 auf sein Amt verzichten. Einige erhaltene Briefe aus dieser Zeit schildern die unerträgliche seelische Belastung, die sich für ihn ergeben hatte. Paul Gerhardt blieb nun noch zwei Jahre in Berlin, wenn auch ohne Bestallung, doch auch nicht untätig. Die Frucht dieser Jahre waren einige seiner bedeutendsten Lieder.

Aus Lübben im Spreewald wurde ihm 1669 die Stellung des Archidiakonus angeboten, die er die letzten sieben Lebensjahre, dort still und bescheiden wirkend, ausfüllte. Bis zum Tod blieb Gerhardt der bekennende Lutheraner, der er zeit seines Lebens war. In seinem Testament vom Frühjahr 1676 , in dem er seinem Sohn noch letzte Lebensrat gibt, heißt es: "Die heilige Theologiam studiere in reinen Schulen und auf unverfälschten Universitäten, und hüte dich ja vor Synkretisten, denn sie suchen das Zeitliche und sind weder Gott noch Menschen treu". Paul Gerhardts Grabstelle in der Lübbener Stadtpfarrkirche ist heute nicht mehr auffindbar.

In der schöpferischen Sprache und im Vers seiner Lieder ist Gerhardt Luther so nahe verwandt wie in seinen geistigen Grundlagen. Der orthodoxen Theologie geben seine Lieder volkstümlichen Ausdruck (Petrich). Ich-betonte Gefühlshaftigkeit und objektiver Dogmengehalt verbinden sich zu einer singulären Symbiose, in der Gerhardts dichterische Kraft die allmähliche Wandlung vom Bekenntnislied zum persönlichen Erbauungslied bewirkte. Die Verbreitung von Gerhardts Liedern erfolgte nicht allzu schnell. Ihr stand die Liedordnung der lutherischen Kirche entgegen, die eine rasche Aufnahme neuer Lieder nicht zuletzt im Hinblick auf die nicht in jedem Falle für den Gemeindegottesdienst gesetzte Bestimmung (wie bei Gerhardt) verwehrte. Zum anderen war infolge des landeskirchlichen Partikularismus die große Zahl der im Gebrauch befindlichen Gesangbücher von Nachteil. Erst die Atmosphäre des Pietismus erleichterte die Rezeption seiner Lieder, während sie bald darauf im Sog der Aufklärung wieder in der Versenkung verschwanden, so daß Romantik und Restauration vieles neu aufzubauen hatten und ein Lied wie "Geh aus, mein Herz" in Arnims und Brentanos "Des Knaben Wunderhorn" aufgenommen wurde.

Außerordentliche Anregungen gingen von ihm auf das Melodienschaffen aus. Als sein wichtigster Melodienschöpfer (und das noch zu Lebzeiten) mag der Berliner Nicolaikantor Johann Crüger (1598–1662) gelten, der 1640 das erste lutherische Gesangbuch Berlins herausgab und von dem allein sieben der zwölf eigens geschaffenen Weisen zu den Gerhardt-Liedern des Evangelischen Kirchengesangbuchs stammen. Im Zeitalter der Kantate und der oratorischen Passion gewann Gerhardts Werk besondere Bedeutung. Dietrich Buxtehude ist wohl der erste gewesen, der ein Gerhardt-Lied in eine Kantate aufnahm ("Wie soll ich dich empfangen"), doch rücken weitere Gerhardt-Gesänge durch die Aufnahme in Brockes‘ Johannes-Passions- und Picanders Matthäus-Passionstext in den Vordergrund. Für ungezählte Musikhörer ist Bachs Choralsatz "Wenn ich einmal soll scheiden" aus der Matthäus-Passion ein Gipfelpunkt abendländischer Musikgeschichte. Bachs Kantaten liegt allerdings nur einmal ein Gerhardt-Text zugrunde ("Ich hab in Gottes Herz und Sinn"). In der Musik des 19. Jahrhunderts begegnet man Gerhardts Liedern nur noch ganz vereinzelt, wie in Mendelssohns Oratorienfragment "Christus" (op. 97) oder in einem von Max Bruchs Chorliedern ("Geh aus, mein Herz"). Das 20. Jahrhundert allerdings läßt Gerhardt noch einmal die ihm gebührende Anerkennung widerfahren, so in einer fast unübersehbaren Zahl von Choralsätzen und -kantaten wie zum Beispiel im "Liederbuch nach Gedichten von Paul Gerhardt" von Ernst Pepping oder in den a capella-Kantaten Hugo Distlers, in denen die protestantische Kirchenmusik einen letzten erhabenen Höhepunkt findet.

In Paul Gerhardt, in dem die "Orthodoxie und das Kirchentum der Zeit ganz und gar eigenes Leben und wirkliche Kraft" (Müller) wurden und der dennoch die ganze Seligkeit der Unio mystica empfand und schilderte, erhält die Epoche ihren klassischen Liederdichter. Lieder, die stets schlicht und trotzdem voll stärkster Empfindung in ihrer tiefen Frömmigkeit und starkem Gottvertrauen zusammen mit Grimmelshausens "Simplicissimus", den Werken des Andreas Gryphius und Christian Hofmann von Hofmannswaldaus den wohl bedeutendsten Ausdruck der deutschen Nationalliteratur im 17. Jahrhundert darstellen.

 

Paul Gerhardt: Geistliche Lieder (Auswahl). Reclams UB Nr. 1741.

Christian Brunners: Paul Gerhardt. Weg – Werk – Wirkung. 2. Aufl. Berlin 1995

Ein immer noch maßgebliches Standardwerk ist Hermann Petrich: Paul Gerhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Gütersloh 1914


 
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