© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/01 18. Mai 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Viktor Orbán sorgt sich um die Ukraine
Carl Gustaf Ströhm

Ungarns Premier Viktor Orbán gilt als machtbewußter und zugleich strategisch denkender Politiker. Der frühere Vorsitzende der rechtsliberalen Bürgerpartei Fidesz und Chef einer Mitte-Rechts-Regierung in Budapest ließ aufhorchen, als er in Washington den Westen aufforderte, das Augenmerk auf einen kränkelnden postkommunistischen Patienten zu lenken: auf die Ukraine.

Dieser 52-Millionen-Staat siecht seit Jahren vor sich hin. Die politische Klasse in Kiew droht in einem Sumpf von Korruption, finsteren Machenschaften, ja sogar Mordanschlägen zu versinken. Obwohl die Ukraine von ihren natürlichen Voraussetzungen her ein potentiell reiches Land ist, hat sie den Übergang vom Kommunismus noch schlechter verkraftet als das benachbarte Rußland – und das will schon etwas heißen.

Einer der Gründe für die moralische und soziale Destabilisierung dürfte zweifellos der seinerzeitige Stalin-Terror sein, der die Ukraine mit besonderer Härte traf: Auslösung einer künstlichen Hungersnot mit Millionen Toten während der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft in den dreißiger Jahren, ferner gnadenlose Verfolgung der ukrainischen Nationalisten durch die sowjetische Geheimpolizei. Die Ukraine ist heute auch ethnisch gespalten: der östliche Teil ist stark russifiziert, die West-Ukraine mit Lemberg ist national gesinnt und noch vom alten Österreich geprägt.

Schon spricht man von der Gefahr einer Spaltung des Landes. Orbán gebührt das Verdienst, als erster europäischer Politiker auf die gefährlichen strategischen Folgen eines Scheiterns der ukrainischen Unabhängigkeit hingewiesen zu haben. 1991 wurde das Land durch den Zerfall der Sowjetunion wieder selbständig. Aber Rußland hat sich auch nie mit dem "Separatismus" der Ukrainer abgefunden. Die heutige Moskauer Politik ist, ebenso wie unter den Zaren und den Bolschewiken, darauf gerichtet, die Ukraine so oder so wieder "heimzuholen" in einen von Moskau beherrschten Staatsverband.

Für die Ungarn hätte eine Rückkehr der Ukraine unter Moskauer Oberhoheit einschneidende und möglicherweise nicht ungefährliche Konsequenzen. Im äußersten Westen der Ukraine, um Ungvár, leben noch zahlreiche Ungarn. Bisher lag seit 1991 zwischen der ungarischen Nordost- und der russischen Westgrenze die Ukraine als eine breite "Pufferzone". Sollte sich das ändern, würde Rußland unmittelbar am Ufer des Grenzflusses Theiß auftauchen. Das aber, so meint Orbán, müßte die gesamte Sicherheitsstruktur zum Einsturz bringen. Er sieht durch ein Scheitern der Ukraine auch die baltischen Staaten unmittelbar gefährdet – und auch Polen, das ebenso wie Ungarn Nato-Neumitglied ist, geriete unter stärkeren Druck. Kurzum: Der "russische Bär" würde auf den Trümmern der ukrainischen Selbständigkeit wieder unmittelbar in die (mittel-)europäische politische Szene eingreifen – mit allen negativen Folgen, die aus einer solchen Kräfteverschiebung erwachsen.

Im Gegensatz zu Orbán haben die meisten westeuropäischen Politiker diese Dimension der ukrainischen Krise überhaupt noch nicht begriffen. Heute muß man sich fragen, ob die ukrainische Kalamität nicht auch durch die blinde "Rußland-Besessenheit" westlicher Staatsmänner (Ex-Kanzler Kohl ist dafür ein abschreckendes Beispiel) ausgelöst wurde. Der Westen hat die Chance verspielt, sich durch eine rechtzeitige und energische Stabilisierung der Ukraine viel Ärger an seinen Ostgrenzen zu ersparen. Jetzt kann man nur hoffen, daß Viktor Orbán doch noch Gehör findet.


 
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