© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/01 11. Mai 2001

 
Hitlers Tod und Deutschlands Rettung geplant
Historisch-politische Impressionen: Die Internationale Jugendbegegnungsstätte Kreisau
Jutta Winckler

Vor gut zwei Jahren wurde die Internationale Jugendbegegnungsstätte Kreisau/Grodziszcze eingeweiht, zehn Kilometer von Schweidnitz gelegen. Die Einrichtung sei längst "ein Begriff für alle Kulturbewußten in Polen", so Vadislav Krain, Germanistikdozent der Krakauer Universität, und gelte "bei Intellektuellen aus allen Landesteilen als einer ihrer Haupttreffpunkte".

Drei Tage nach dem Fall der Berliner Mauer trafen sich die damaligen Regierungschefs Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki in Kreisau, um dort, in Niederschlesien, eine von Geistlichen beider Nationen zelebrierte katholische "Versöhnungsmesse" zu feiern. Ein Foto zeigt den Warschauer Premierminister, wie er in den Armen des Oggersheimers schier verschwindet – und trotzdem gehört diese Szene mittlerweile zur Standardbebilderung polnischer Schulbücher.

Kohl und Mazowiecki, letzterer inzwischen als EU-Apparatschik unterwegs, griffen damals die Anregung einer Breslauer Studenteninitiative auf, das verfallende Gut der von Moltkes als binationalen Treffpunkt herzurichten. Freya von Moltke, die Witwe des im Januar 1945 wegen Hochverrats hingerichteten Grafen Helmuth James von Moltke, ließ es sich nicht nehmen, das Projekt zu unterstützen. Sie beschwor die besondere Aura des Ortes: 1942/43 sei das Gutshaus Anlaufpunkt des "Kreisauer Kreises" gewesen (den Namen hatte sich die Gestapo einfallen lassen), einer Verschwörergruppe des nichtmilitärischen Widerstandes gegen die NS-Regierung. Die damalige Moltke-Gruppe habe Pläne für die Neuordnung des Deutschen Reiches entworfen und mit der Stauffenberg-Treschkow-Gruppe konspirativ in Verbindung gestanden.

Die Kosten von rund dreißig Millionen Mark trug Deutschland; die ästhetisch einwandfreie Restaurierung der weitläufigen Gutsbebauung stellt 165 Nachtlager zur Verfügung, dazu kommen Sporthalle, Tagungs- und Werkräume sowie eine Kläranlage – von der, als einer Art Entwicklungshilfeprojekt, etliche benachbarte Dörfer profitieren. Träger der Finanzen war eine Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, deren Aktivität sich offenbar mit diesem einen Vorhaben bereits erschöpft hat; als größte Stiftung in Polens läuft sie bereits heuer aus. Die Entlastung für den deutschen Steuerzahler ist eher gering: Die Gelder für Kreisau rühren aus Kreditabträgen her, die das reale Nach-Wende-Polen unserer Tage bei der imaginär gewordenen Vor-Wende-BRD abzustottern hat – für den "Jumbo-Kredit" von 1975, einen von unzähligen westlichen Kommunismus-Stützungskrediten. Die Kohlsche Bundesregierung verzichtete auf die Raten und ließ die Beträge in besagte Stiftung fließen.

Wer von Westen auf Kreisau zufährt, passiert die Grenzstation nach Zgorzelec, dem polnischen Teil der niederschlesischen Stadt Görlitz. Überall prangt der polnische Adler, weiß auf rotem Grund. Sein ins Historio-Mythologische entschwebter Widerpart, der Preußenaar, zeigte sich schwarz auf weißem Grund. Der noch rezente "rote Adler" des Bundeslandes Brandenburg bevorzugt weißen Grund. Enorm viel Geflatter in Geschichte und Gegenwart: Der Pole glaubt, sein "Piastenadler" sei der Ur-Aar aller für jene Weltgegend bedeutungsvollen Adler; über den der Jagiellonen und der landfremden Wasa habe er sich zum Hoheitsgreif unserer Tage gemausert. Und trägt seit der Walesa-Wende wieder Krone.

Jenseits von Oder und Neiße eine selbstbewußte Nation

Auf den Alleen, jenen typisch preußischen Baumreihen beiderseits des Fahrweges, hat man die metallenen Leitplanken rotweiß lackiert. Kein Zweifel: Mit der BRD läßt man eine verwahrloste, polyethnisch zur Neubesiedelung freigegebene Landnahmezone hinter sich – in Gestalt der polnischen Republik tritt dem Kreisau-Fahrer ein selbstbewußter Nationalstaat entgegen. Stolz und beständig, und keiner fährt schneller als fünfzig.

Dreißig Kilometer hinter der Grenze wird Bunzlauer Geschirr feilgeboten; gegenüber eine spitzgieblige Betonkirche, aus der polnischer Gesang herüberweht. Es ist Sonntag. In weißen Kleidchen führen Väter ihre Kinder zum Spielen an einen Bach, mit blanken Händchen winzige Krebse zu fangen. Selbst die deutschen Schäferhunde der Bauern scheinen polnisch anzuschlagen. An der Straße Verschläge mit Korbwaren, Fellen, präparierten Tieren, Stände mit Zigaretten- und Branntweinware, Keramikstörche und gruslig geschmacklose Gartenzwerge in Menschengröße, für deutsche Schrebergärtner hergestellt. Kein Pole würde sich just einen Teutonen-Zwerg aufs Grundstück stellen! Die Deutschen fahren "rüber" zum Billig-Friseur, zum Billig-Zahnarzt, zum Billigtanken. Der "Polenmarkt" findet nun östlich der Oder statt.

Legnica sagt man heute zur alten deutschen Stadtgründung Schweidnitz, sechzigtausend Bewohner, Fiats und Ladas rumpeln über das Steinpflaster, vor ein paar Jahrzehnten erst gepflanzt von Arbeitern mit reichsdeutschen Papieren. Dem gemeinen BRDler nach fünfzig Jahren so fern wie einem amerikanischen Juden Jerusalem nach zweitausend nah. Ein paar Restdeutsche sollen am Ort leben; auf dem Friedhof nahe der Kirche blieb ein letzter Grabstein der verwehten Autochthonen stehen: "Hier ruht Oberlyzeallehrer Partikulier". Nach wenigen Minuten erreicht man die gesuchte Begegnungsstätte. Die Renovierung nahm zehn Jahre in Anspruch und beschäftigte die Handwerksbetriebe der Region. Das Café im neoromanischen Kuhstall mischt Reisende und Einheimische. Von dort ist es nicht weit in den großen Saal des schloßartigen Hauptgebäudes, wo eine Dauerausstellung zum Thema "Widerstandsgruppen" stattfindet. Sollten die polnischen Neusiedler, die ausländischen Besucher nicht auch etwas über die siebenhundert Jahre vor dem 20. Juli 1944 erfahren dürfen?

Bis 1945 zeigte man am Ort nur eine Sehenswürdigkeit: das Zimmer des preußischen Feldmarschalls Moltke, des Siegers von Sadowa und Sedan, Bismarcks Blut- und Eisenarm, ohne den die deutsche Nation modernitätsstaatlich gewiß nicht auf die Beine gekommen wäre. Daß sie es nicht blieb, durch das Kalkül vieler Nachbarn nicht bleiben durfte, dauert als Hypothek und tragischer Zerfallsprozeß bis heute schmerzend fort.

Angeblich soll sich der hingerichtete anglophile Moltke-Epigone ("James") einer Gedenkfeier widersetzt haben, die das Dritte Reich zu Ehren seines Urgroßonkels 1941 ausrichten wollte. Was kann an einem historischen Überbau noch glaubhaft sein, dem die hermeneutische Matrix durch raumfremde Invasoren und deren einheimische Nutznießer oktroyiert wird?

Im Berghaus befand sich das Besprechungszimmer der Verschwörer; heute symbolisch möbliert mit einem runden Tisch und zwei Stühlen verschiedener Herkunft. Das Sitzmöbelpärchen soll nach dem Willen der Stifter den "Wunsch nach Verständigung zwischen den beiden Nachbarländern zum Ausdruck bringen, über die trennenden Erfahrungen des zweiten Krieges hinweg", so die Broschüre. Selten wurde die verdrängungspsychotische Verquollenheit beider Nationen, die regierungsoffiziell gemanagte Verlogenheit in Sachen deutscher bzw. polnischer Realgeschichte sichtbarer. Ein in die Luft gejagter Adolf Hitler als Pate der Völkerversöhnung? Dagegen fällt selbst der sowjetische Spuk sozialistischer Brudervölkerfreundschaft ab.

Kein polnisches Interesse an den Gut-Deutschen

"Kreis und Kreuz" sollen "Symbole der Kreisauer" gewesen sein; in eine Fensterscheibe eingeschliffen präsentiert sich der Besucherin dies gleichsam urantifaschistische Schandala. Soll ihr etwa suggeriert werden, sich hier die weihevolle Ur-Gründung der Brüsseler EU vorzustellen? Die Kreisauer seien, so wird verlautet, "von einem befriedeten Europa beseelt" gewesen, hätten von "einem Abendland geträumt, in dem sich sozialistische und christliche Werte vereinbaren" ließen. Haben christliche Amerikaner und sozialistische Russen ihnen diesen Wunsch nicht erfüllt? Falls nein, müßte geschlossen werden, die wackeren "Kreisauer" seien eben doch bloß Bösdeutsche gewesen: schlesisch-nationale Wölfe im anti-hitlerschen Schafspelz? Der Krakauer Dozent sieht klar: Der erste Rausch, der auch auf polnisch "Europa" hieß, sei verflogen. Auch östlich der Oder sei der fatale Hang in Mode gekommen, wahllos alles Westliche nachzuäffen. Und da dort die Deutschen wären, äffe man in erster Linie den way of life der amerikanisierten BRD-Deutschen nach.

Dennoch würde Polen in Straßburg und Brüssel noch nicht so ernst genommen, wie es wünschenswert sei: "Wir sind vierzig Millionen Trottel und weiter nichts. Wen interessieren wir ernsthaft?" Alle Polen dächten geschichtlich: "Wir sind stolz auf unsere Geschichte und Kultur. Wir möchten sie an unsere Kinder weitergeben, auch unseren katholischen Glauben." Just diese Wesenszüge sind es, die den real existierenden Polen bei der Melting-Pot-EU unwillkommen machen. Noch.

Die Polen, so der junge Pädagoge aus Bad Mergentheim, aber seien von Deutschen befremdet, die ihnen penetrant schulterklopfend und umarmend begegneten. Es entspreche nicht allgemein menschlicher Erfahrung, daß man ein Volk liebe, dem man ein Drittel seines Territoriums habe überlassen müssen. Selbst wenn Warschau bloß den Willen Moskaus, Londons, Paris und Washingtons vollzogen habe: Diese Gut-Deutschen seien entweder Heuchler oder Verrückte. Mit beiden wolle man nichts zu tun haben. Der Pole wolle jenseits moralisch-rechtlicher Spiegelfechtereien all das behalten, was als Folge der deutschen Kriegsniederlage in seinen Besitz gelangt sei. Das komme allemal vor jeder EU-Integration. Die üble Besatzungspolitik Hitlers sei als Langzeitfolge noch virulent, wenn es kaum einen polnischen Straftäter gebe, der sich ein Gewissen daraus mache, deutsche Limousinen zu stehlen: Auch hier entlaste die Überzeugung, es vollziehe sich, selbst auf solch zweifelhaftem Weg, die Wiedergutmachung vergangenen Unrechts. Cargo-Kult auf slawisch.

Das "Team" der Begegnungsstätte setzt seine Hoffnung auf kulturelle Arbeit jenseits von gruselseliger Sex& Crimetouristik und Versöhnungskitsch. Man bietet Kurse für Chor- und Kammermusik an, Journalistik, Buchgestaltung, Seminare für mündlich weitergegebene Geschichte und Gruppenkontakt-Projekte, die Partner- oder gar Freundschaften begründen helfen sollen. Ein fester Termin ist der "Kreisauer Künstlersommer" für junge Erwachsene; die Produkte der Werkstunden ("Workshops") unter Anleitung versierter Kunstschaffender werden auf dem 24 Stunden währenden Abschlußfest einer größeren Öffentlichkeit präsentiert. Kreisau aber ist keineswegs ausgebucht. Vielen Deutschen, bemerkt der Krakauer Schiller-Kenner melancholisch, erscheint das südwestliche Polen, ihren eigenen Eltern und Großeltern noch vertraute Heimat, so fern und fremd wie Sibirien: "Hier ist nicht Sibirien. Hier ist Polen, ist Deutschland, hier war Preußen und das alte Österreich. Hier ist Europa und hier ist das Christentum als katholische Kirche. Hier ist kein Niemandsland. Wir müssen uns auch nicht vor den Deutschen fürchten, sondern vor dem entfesselten Markt, der Globalisierung, den Unwerten des Westens. Sie werden auch unser Schlesien zum Niemandsland machen." Begegnungen mit solchen Charakteren, gleich welcher Volkszugehörigkeit, sind es, die Kreisau einer Reise wert erscheinen lassen. Man muß ja nicht gleich am runden Tisch landen. Auch der Platz zwischen den Stühlen hat seinen Reiz.

 

Internationale Jugendbegegnungsstätte Kreisau. Krzyzowa 7, PL – 58-112 Grodziszcze. Tel: 00 48 / 74 / 50 03 00, Fax: 00 48 / 74 / 50 03 05.


 
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