© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/01 11. Mai 2001

 
Der normale Wahnsinn
Plädoyer für ein neues ökologisches Bewusstsein
Roger Hicks

Es ist viel von Verbraucherschutz, Verbraucherrechten und Verbraucherinteressen die Rede, aber was wirklich im Mittelpunkt stehen müßte, ist Verbraucherverantwortung. Fast alles in dieser Welt geschieht – mittelbar oder unmittelbar – durch Geld. Das meiste, was wir tun, tun wir entweder mit oder für Geld. Geld hält die Welt nicht nur in Bewegung, es bestimmt auch, wohin die Reise (der Menschheit) geht und wie wir dorthin kommen. Wenn Mensch, Tier und Umwelt mißbraucht werden, wenn wir die lebenserhaltenden Systeme unseres Planeten und damit auch unsere eigene Zukunft gefährden, dann nur, weil Geld damit verdient, dafür ausgegeben oder darin investiert wird.

Geld (bzw. der verantwortungslose Umgang damit) ist die Ursache (fast) aller unserer Probleme. Ein besserer, verantwortungsvoller Umgang damit wäre die Lösung. Man zeigt gern mit dem Finger auf andere – aber es sind nicht nur andere, die verantwortungslos mit Geld umgehen. Es sind nicht nur die Reichen, die Banken und die Großindustrie. Es sind wir alle. Erst wenn wir uns unserer Verantwortung für das eigene Geld bewußt werden (wie wir es verdienen, aber vor allem, wie wir es ausgeben oder investieren), werden wir wirklich damit anfangen, die Plünderung unseres Planeten zu beenden und die sich anbahnende Katastrophe abzuwenden.

Das bißchen, was ich tun kann, ist nur ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein, klagen viele entmutigt. Das stimmt. Aber auch der größte, heißeste Stein wird kalt, wenn genügend Tropfen auf ihn fallen!

Wir müssen auch erkennen, daß unser Wirtschaftssystem grundsätzlich nicht zukunftsfähig ist. Die fast "heiligen" Gründsätze des Systems heißen: möglichst viel Effizienz, Produktivität, Konsum, Wachstum und Wettbewerb – immer noch!

Im richtigen Verhältnis sind alle diese Prinzipien sinnvoll, aber so wie sie heute über alles andere gestellt werden, treiben sie uns in die Katastrophe. Ihre unverhältnismäßige Anwendung war für BSE direkt verantwortlich, um nur den aktuellsten Ausdruck des Wahnsinns zu nennen. Statt von "Rinderwahn" zu sprechen, wäre "Menschenwahn" oder "Wirtschaftswahn" viel passender.

Aber der Wahnsinn ist überall. Wir sehen ihn nur nicht, weil er uns so vertraut ist. Wir orientieren uns am "Normalen" (an Normen halt), wobei "normal" gleichzeitig "gewöhnlich" und "in Ordnung" bedeutet. Zum Beispiel ist es in Deutschland normal und gewöhnlich, daß Jahr für Jahr hunderte Millionen Mark für die Zigarettenwerbung ausgegeben werden, obwohl jedes Jahr über 90.000 Bürger an den Folgen des Rauchens sterben. Oder nehmen wir das Auto. In Deutschland hat fast jeder sein eigenes Auto. Wir sind davon abhängig, nicht nur persönlich, sondern auch wirtschaftlich. Wenn wir viel weniger Autos kaufen würden, hätten wir sofort eine Wirtschaftskrise.

Nun hat die Erde zur Zeit ca. sechs Milliarden Einwohner, die alle – sobald sie es sich finanziell leisten können – ein eigenes Auto haben wollen (und die Wirtschaft ermutigt sie noch dazu). Das ist die vertraute Wirklichkeit, die aber zur Katastrophe führen muß, denn das Klima und die lebenserhaltenden Ökosysteme unseres Planeten stöhnen jetzt schon unter der Last von etwa 500 Millionen Fahrzeugen, eine Zahl, die sich in den kommenden Jahrzehnten versechsfachen wird!

Dazu wird es aber nicht kommen, denn vorher werden die Life-Support-Systeme des Raumschiffs Erde zusammenbrechen. Den realexistierenden Sozialismus haben wir hinter uns gelassen und fahren fort auf dem Dampfer der kapitalistisch-sozialen freien Marktwirtschaft. Kein Zweifel, er ist das bessere Modell, aber sehr viel weiter werden wir auch mit ihm nicht kommen. Denn dieses Wirtschaftssystem plündert den Planeten aus, setzt auf menschliche Habgier und die Ausbeutung von Mensch, Tier und Umwelt. Im Westen zumindest werden die negativsten Konsequenzen des Systems durch Sozial- und Umweltpolitik gelindert, aber auf Dauer kann es nicht gut- gehen. Das System verbraucht sein eigenes Kapital. Die Erde ist groß, ihre Ressourcen und Belastbarkeit enorm. Deswegen läuft alles bis jetzt so gut (für viele von uns), aber diese Zeiten werden in absehbarer Zeit zu Ende gehen.

Nach aktueller grüner Politik zu urteilen (die in Sachen Nachhaltigkeit immerhin die fortschrittlichste ist), würde man denken, wir hätten das ganze neue Jahrhundert Zeit oder noch länger, um eine nachhaltig wirtschaften zu lernen. Wir haben aber viel weniger Zeit, wahrscheinlich zu wenig. Es ist jetzt schon fünf – wenn nicht zehn – nach zwölf.

Die Katastrophe kommt in den nächsten Jahrzehnten. Wir werden auf die Felsen (die Grenzen der Belastbarkeit unseres Planeten) laufen. Das wird aber nicht das Ende sein. Millionen werden wahrscheinlich sterben, aber das Schiff wird wieder flottgemacht. Die Frage ist, ob wir ein zweites und drittes Mal auf die Felsen fahren, bis schließlich alle Menschen ausgestorben sind, oder ob es uns doch noch gelingt, nachhaltige Gesellschafts- und Wirtschaftsformen zu schaffen. Wir müssen jetzt daran arbeiten, so wie man an Bord eines untergehenden Schiffes Rettungsflöße baut, und eine wirklich alternative Wirtschaft schaffen.

 

Roger Hicks, 51, Biologe und Übersetzer, ist Mitglied der Grünen in Braunschweig und Delegierter zur Bundesversammlung.


 
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