© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/01 11. Mai 2001

 
Zivilcourage
"Was ist denn eigentlich passiert?"
Steffen Königer

Es ist Freitagabend, kurz vor zwölf. In einem Berliner U-Bahn-Abteil sitzen um diese Zeit gut 30 bis 40 Menschen, die wahrscheinlich noch auf ein Fest wollen oder bereits von einer Veranstaltung kommen, darunter viele junge Menschen.

Mit einer Freundin war ich von einer Hochzeitsfeier auf dem Weg zu einem Kollegen, als sie mit einem Mal einen entgeisterten Gesichtsausdruck bekam: "Warum sagt denn hier niemand etwas?" Als ich mich umdrehte, erblickte ich einen Jugendlichen, der in aller Seelenruhe die Abteiltür mit einem tag , einem Graffito verzierte. Ja, wieso sagt denn niemand etwas?

Also, aufgestanden und gefragt: "Sagen Sie mal, was soll denn das werden? Das ist doch Sachbeschädigung!" Antwort: "… na und? Das kann man doch wieder wegwischen, guck." Sprach er und versuchte, mit der Handfläche die Schmiererei wieder zu entfernen. Natürlich ohne Erfolg. Auf meinen lautstarken Protest, daß so etwas eine Riesenschweinerei ist und dies jeder Fahrgast mit erhöhten Fahrpreisen bezahlen müßte, rührte sich keiner der Mitfahrenden. Die einzigen, die bei meinem Griff zum Handtelefon – um die Polizei zu verständigen – lauter wurden, waren die Freunde des Sprühers. Von "Scheißheld", den man besser "abstechen" sollte, war die Rede. Einer der Gruppe trat auf mich zu und meinte beschwichtigend: "Weißt Du, wir sind doch Ausländer, wir wissen gar nicht, was das heißt." Völlige Verblüffung auf meiner Seite. Sollte diese Tatsache ein Lächeln bei mir auslösen, gefolgt von einem: "… na, dann dürft ihr ja"? Nach einer kurzen Rangelei (man versuchte mich davon abzuhalten, die Tür zu öffnen) waren im nächsten U-Bahnhof sechs Polizeibeamte nicht in der Lage, den Hals über Kopf Flüchtenden festzuhalten. Die restlichen Freunde tauchten in der vollkommen teilnahmslosen Masse unter.

Das einzige, was die Mitreisenden registrierten, ist wohl die längere Standzeit auf dem Bahnhof gewesen. Ein Wachdienstmitarbeiter, der die ganze Zeit das Geschehene beobachtete, antwortete auf die Frage, warum er nicht eingriffen hätte, ganz lakonisch, daß dies nicht sein Revier sei.

Gibt es überhaupt noch ein Verantwortungsbewußtsein in der Gesellschaft? Die Täter waren weder bewaffnet, noch sahen sie bedrohlich aus. Ist denn Zivilcourage wirklich so schwierig, daß nicht einmal die Beschmierung von U-Bahnen zum Prostest animiert? Die Frage bleibt unbeantwortet, wie es bei einem gewaltsamen Übergriff – gegen wen auch immer – abgelaufen wäre. Bei dieser reaktions- und emotionslosen Handlungsweise läßt sich schlimmes vermuten, wenn es um mehr geht als um beschmierte Türen oder zerkratzte Fensterscheiben. Wenn Menschenleben in Gefahr sind, ist nach solcher Episode nicht auszuschließen, daß nach einem Gewaltakt sich einige nur um die Verspätung Sorgen machen werden. Trotz Aufforderungen kam niemand zu Hilfe, nur eine Dame drehte sich um, nachdem wir wieder fuhren: "Was ist denn eigentlich passiert?"


 
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