© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
Das Schweizer Vorbild
von Timo Keller

In den letzten Monaten tritt immer deutlicher zutage, daß die Europäische Union ein Moloch ist, der nicht nur ein Demokratiedefizit besitzt, sondern dem auch eine demokratische Grundlage gänzlich fehlt: nicht einmal die Gewaltenteilung als Grundlage eines Rechtsstaates ist vollzogen. Auch hat man die einzelnen Länder in die EU geführt, ohne den Volkswillen zu berücksichtigen – die wenigsten Länder haben darüber eine Volksabstimmung durchgeführt. Nach der Reaktion der EU auf die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich war klar, wie die EU mit einer demokratisch gewählten Regierung bzw. mit dem entsprechenden Land verfährt, wenn das Wahlergebnis nicht in das Konzept der Sozialistischen Internationale paßt, die in Brüssel die Macht hält.

Immer dringender stellt sich die Frage, welche Zukunft ein solches Gebilde hat, das dermaßen den Volkswillen ignoriert, ja überhaupt kein Interesse an der Meinung des Volks zeigt. Es sei erinnert an das Geheul der Politiker – sogar aus den eigenen Parteireihen –, als EU-Kommissar Verheugen (SPD) vorschlug, in der Frage der Osterweiterung eine Volksbefragung durchzuführen. Mit dem Argument, das Volk sei nicht in der Lage, über solch komplexe Fragen zu entscheiden, und mit anderen Ungeheuerlichkeiten fegte man diese "verbale Entgleisung" des EU-Erweiterungskommissars vom Tisch. Hier wird das Volk nicht gefragt, hieß die Devise. Die Idee, das Volk mehr an Abstimmungen zu beteiligen, läßt sich dennoch auch in Deutschland nicht mehr so leicht vom Tisch wischen. Die SPD denkt laut darüber nach, wie und wo man das Volk beteiligen will. Die CDU hat Bedenken, ob das Volk nicht überfordert sei. Die Grünen fordern weitergehende Volksrechte. Eine breite öffentliche und ehrliche Diskussion muß folgen, wenn das ganze nicht nur Augenwischerei sein soll.

Es wäre nicht so schwierig, sich kundig zu machen, wie das einzige direktdemokratische Land Europas, Deutschlands Nachbar Schweiz, das politische Leben organisiert und praktiziert. Die Volksabstimmung in der Schweiz vom 4. März 2001 über die Initiative "JA zu Europa" hat gezeigt, wie wichtig es ist, daß das Volk befragt wird. Mit nahezu 80 Prozent lehnte die Bevölkerung ab, daß die Regierung der Schweiz unverzüglich Verhandlungen über einen EU-Beitritt mit Brüssel aufnehmen soll. Das ist ein klares Votum gegen einen EU-Beitritt.

Für die direktdemokratische Schweiz wäre ein solcher Schritt auch besonders schwerwiegend. Da EU-Recht nationalem Recht vorgeht, würde die direkte Demokratie der Schweiz nur noch ein Schattendasein fristen oder restlos verschwinden. Das kann nicht die Zukunft der Schweiz und letztlich der ganzen Menschheit sein, daß man ihre demokratischen Rechte beschränkt und ihnen die Mitsprache verweigert. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muß respektiert und die Bürger müssen am politischen Entscheidungsprozeß beteiligt werden. Die Schweiz ist hier ein außerordentliches Beispiel und bietet wegen ihrer direkten Demokratie eine Hoffnung für das übrige Europa, wie sie es im vergangenen Jahrhundert schon einmal war.

Wodurch zeichnet sich das Modell Schweiz aus, und warum ist es für alle wirklichen Demokraten ein so großer Hoffnungsträger? Die besondere Entwicklung auf dem heutigen Gebiet der Schweiz beginnt ab dem 13. Jahrhundert. Bedingt durch das freie Bauerntum entstehen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz, besonders in den Alpentälern, ländliche kommunale Bewegungen. Zentral für diese Bewegungen war die Entwicklung der sogenannten Markgenossenschaften. (Die Mark ist ein bestimmtes abgegrenztes Gebiet, zum Beispiel eine Talgenossenschaft.) Aus diesen Markgenossenschaften entstanden Dorfgemeinschaften, die sich unter den Aspekten der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung zusammenschlossen, um so ein gewisses Gebiet besser bewirtschaften und verwalten zu können. Dieser genossenschaftliche Zusammenschluß begünstigte die Entwicklung gewisser demokratischer Ansätze. So waren alle Mitglieder einer Genossenschaft gleichberechtigt. Die Volksversammlung aller Landleute, die Landsgemeinde, entwickelte sich zum obersten Organ des Landes. Diese kommunale Entwicklung ließ sich zuerst in den Urkantonen (Uri, Schwyz und Unterwalden) erkennen.

Neben der Entwicklung auf dem Lande läßt sich im 14. Jahrhundert in einzelnen Städten der heutigen Schweiz das Aufkommen eines Republikanismus beobachten, der ebenfalls genossenschaftliche Züge trug. Vor allem die Zünfte stellen in dieser Beziehung einen Schrittmacher auf dem Wege zur Freiheit der Stadtbürgerschaft dar. Die Zunft war die städtische Form der Genossenschaft. Auch hier spielten die drei "Selbst" (Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung) eine große Rolle. Die Verwaltung der Städte, soweit es freie Reichsstädte waren, oblag vor allem den reichen Kaufleuten und dem Adel. Durch die Entwicklung des Handwerks drängten nun Vertreter der Zünfte ebenfalls in die Stadtverwaltung. Damit wurde zwar das Gefälle zwischen Arm und Reich nicht beseitigt, doch schuf es die Möglichkeit, sich allmählich politisch zu emanzipieren. Das sich daraus entwickelnde Selbstbewußtsein war Voraussetzung für die Weiterentwicklung dieser frühdemokratischen Ansätze. Im Laufe der Jahrhunderte verbündeten die Stadtkantone sich mit den Landkantonen. Der Untertanengeist der Landbevölkerung war dadurch weniger stark ausgeprägt als zum Beispiel in Deutschland. Natürlich müssen diese frühdemokratischen Ansätze in ihrem historischen Kontext verstanden werden und dürfen nicht mit dem Maßstab heutiger Demokratien verglichen werden. Dieser frühdemokratische Geist hat sich über die Jahrhunderte hinweg in unterschiedlicher Intensität weiterentwickelt und die Schweiz zu dem gemacht, was sie heute ist.

Was zeichnet die moderne Schweiz als direktdemokratisches Land aus? Die föderalistische Verfassung der Schweiz, die Bundesverfassung von 1848 (revidiert 1874 und 2000), hat es ermöglicht, einen Bundesstaat zu bilden, der den vier Sprach- und Kulturregionen Rechnung trägt und gleichzeitig die historisch gewachsene Gemeindeautonomie und den demokratischen Aufbau der Kantone im Sinne der Subsidiarität berücksichtigt. Dabei bestehen Volksrechte auf der Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene. Der ausgeprägte föderalistische Aufbau der Schweiz beruht auf dem Prinzip der Subsidiarität.

In der Schweiz hat nicht die Regierung die oberste Macht im Staate, sondern alle Gewalt geht vom Volke aus, was nach der Verfassung auch in Deutschland der Fall wäre. Die Gemeindeautonomie stellt dabei die Wiege der schweizerischen direkten Demokratie dar. In der Gemeinde hat der Bürger die Möglichkeit, das politische Leben direkt mitzugestalten, und zwar auf der Gemeindeversammlung.

Die meisten der insgesamt knapp 3.000 Gemeinden in der Schweiz kennen noch die Gemeindeversammlung. Sie ist die gesetzgebende Gewalt. Die wahlberechtigten Bürger einer Gemeinde treffen sich auf dieser Versammlung, um über wichtige Sachgeschäfte abzustimmen, die dann von der Gemeindeexekutive durchgesetzt werden müssen. In die Entscheidungskompetenz der Gemeinden fällt unter anderem die Verabschiedung einer Gemeindeordnung, polizeiliche Aufgaben (Gemeinde- oder Stadtpolizei), Bau von Sportanlagen oder Schulhäusern, Straßenbau usw.

Besonders wichtig ist hierbei die Festlegung des Steuersatzes. Die Stimmberechtigten einer Gemeinde können also über ihren Finanzhaushalt selbst entscheiden. Stimmen zum Beispiel die Bürger einer Gemeinde dem Bau einer neuen Sportanlage zu, kann das gleichzeitig bedeuten, daß sie die Erhöhung des Steuersatzes bis zur vollständigen Finanzierung dieses Bauvorhabens in Kauf nehmen müssen. Damit unterliegen die Finanzen der ständigen Kontrolle durch die Bevölkerung. Das hat zur Folge, daß in den einzelnen Gemeinden sparsam mit dem Geld umgegangen wird. Neben der Legislative und der Exekutive existiert in vielen Gemeinden als Judikative das sogenannte Friedensrichteramt. Seine Aufgaben sind begrenzt, vor allem Schlichtung von Streitigkeiten mit geringem Streitwert oder Weisung an die erste Gerichtsinstanz.

In bevölkerungsreichen Gemeinden (Städten) finden sich repräsentativ-demokratische Elemente. Die Bevölkerung wählt im Proporzverfahren Vertreter in den Gemeinderat (Legislative). Auch der Stadtrat (Exekutive) wird wie in kleineren Gemeinden von der Bevölkerung gewählt. Damit ist aber die politische Mitsprache des Bürgers noch nicht erschöpft. Es besteht ein mehr oder weniger weitgehendes Referendums- und Initiativrecht, so daß der Bürger sowohl über die vom Parlament gemachten Gesetzesvorschläge abstimmen als auch selbst ein Gesetz lancieren kann, indem er vom Initiativrecht Gebrauch macht. Damit eine Initiative zustande kommt, muß eine gewisse Anzahl von Unterschriften gesammelt werden.

Beim Referendum gibt es unterschiedliche Regelungen. Zum einen existiert das obligatorische Referendum, – hier muß das Volk befragt werden –oder das fakultative Referendum – hier muß eine gewisse Anzahl an Unterschriften gesammelt werden, damit es zu einer Volksabstimmung kommt.

Nach dem Prinzip der Subsidiarität regelt nun der Kanton alle Aufgaben, die in den Gemeindeordnungen nicht vorgesehen sind oder die von der Gemeinde nicht übernommen werden können. Dazu gehören unter anderem Planung und Finanzierung von Kantonsstraßen, Bau von Krankenhäusern und Gymnasien, Stellung der Gerichtsbarkeit, polizeiliche Aufgaben (Kantonspolizei) usw.

Die Kantone, die eine eigene Verfassung und Rechtsprechung haben, sind von der Struktur her zu vergleichen mit den Bundesländern in der Bundesrepublik Deutschland, die wie die Kantone einen historischen Ursprung haben. Nicht zu vergleichen sind jedoch die politischen Rechte, die ein Schweizer Bürger in einem Kanton hat. Der Bürger wählt das Kantonsparlament (Legislative) und die Kantonsregierung (Exekutive) und in manchen Kantonen auch die Judikative.

Auf der Kantonsebene besitzt der Bürger ebenfalls ein Initiativ- und Referendumsrecht. Er kann eine Gesetzes- oder Verfassungsinitiative lancieren, wenn er die nötige Unterschriftenanzahl zusammenbringt. Dazu gibt es die Möglichkeit, bei einer Gesetzes- oder Verfassungsänderung das Referendum zu ergreifen, soweit es nicht obligatorisch ist und die entsprechenden Veränderungen automatisch dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden müssen. Beim fakultativen Referendum muß jeweils eine von Kanton zu Kanton unterschiedlich festgelegte Zahl an Unterschriften gesammelt werden. Damit bleibt dem Bürger neben der Wahl seiner Volksvertreter auch das Recht, direkt in die Politik einzugreifen.

Der Bundesstaat übernimmt nun Aufgaben, die nicht im Kompetenzbereich der einzelnen Kantone liegen. Dazu gehören unter anderem das Regeln von auswärtigen Angelegenheiten, Organisation und Verwaltung von Eisenbahn und Verkehr, Verteidigungsaufgaben, Geld- und Währungspolitik, Asylwesen, Zölle usw. Die Legislative auf Bundesebene besteht aus zwei Kammern, dem Ständerat als Vertretung der Kantone und dem Nationalrat als Vertretung des Volks. Beide Kammern unterliegen der Volkswahl. Die Exekutive, bestehend aus sieben Bundesräten, die sich aus den größten Parteien der Schweiz zusammensetzt, wird von der Vereinigten Bundesversammlung (Stände- und Nationalrat) gewählt. Auch auf Bundesebene hat der Schweizer das Referendums- und Initiativrecht. Alle Verfassungsänderungen müssen dem Schweizer Volk zur Abstimmung vorgelegt werden (obligatorisches Referendum). Bei Gesetzesänderungen kann das Referendum von jedem Bürger ergriffen werden (fakultatives Referendum). Dabei müssen innerhalb von drei Monaten 50.000 Unterschriften gesammelt werden.

Eine Initiative auf Bundesebene kann nur eine Verfassungsinitiative sein. Möchte das Volk einen neuen Artikel in die Verfassung aufnehmen, braucht es dazu innerhalb von 18 Monaten 100.000 Unterschriften. Innerhalb nützlicher Frist muß dann diese Verfassungsinitiative dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Das Volk hat also in vielen Situation die Möglichkeit, die Politik des Landes entscheidend mitzubestimmen.

Untersuchungen haben gezeigt, daß allein die Möglichkeit, in politische Entscheidungen einzugreifen, sich positiv auf das Wohlbefinden der Bevölkerung auswirkt. So lassen sich auch innerhalb der Schweiz Unterschiede feststellen, da sich in den verschiedenen Kantonen aufgrund der jeweiligen historischen Entwicklung die Volksrechte in unterschiedlichem Masse herausgebildet haben. Noch heute gibt es zwei Kantone, in denen die Urform der direkten Demokratie, die "Landsgemeinde", nach wie vor gepflegt wird. Hier werden Wahlen von Exekutivmitgliedern und Abstimmungen über wichtige Sachgeschäfte durchgeführt. Jeder Stimmberechtigte darf sich auf dieser Volksversammlung unter freiem Himmel, die an die Ekklesia der attischen Demokratie erinnert, zu Wort melden und Vorschläge einbringen, über die abgestimmt werden muß. Hier ist die Demokratie in ihrer ursprünglichsten Form noch erhalten.

Die direkte Demokratie der Schweiz ist in ihrer Ausprägung einzigartig. Es gibt kaum ein Land, in dem sich das Volk so viele politische Kompetenzen vorbehalten hat. Den besonders in Deutschland häufig erhobenen Vorbehalt, daß das Volk gar nicht in der Lage sei, über komplexe politische Zusammenhänge zu entscheiden, führt die Schweiz ad absurdum.

Kaum ein Land in Europa hat soviel Stabilität und Wohlstand hervorgebracht und soviel für den Frieden auf der Welt beigetragen. Bis heute ist die Schweiz bekannt für ihre humanitären Dienste, auch wenn immer wieder versucht wird, gerade diese Tradition der Schweiz anzugreifen. Für die Schweizer Bevölkerung, um nochmals auf die Abstimmung vom 4. März zurückzukommen, gibt es keinen Grund, sich einem Gebilde wie der EU anzuschließen, in dem der Bürger seine demokratischen Rechte verliert und nur noch eine politische Elite die Entscheidungen trifft.

In keinem EU-Land wird der Bürger gefragt, ob er mit der aufgezwungenen Politik einverstanden ist. Die EU ist ein Machtgebilde, das den einzelnen Menschen nicht mehr berücksichtigt, sondern nur einer kleinen Oberschicht wirtschaftlichen Profit verspricht. Die Beherrschung der Welt im Sinne einer globalen Organisation scheint das große Ziel zu sein. Die individuellen Bedürfnisse der Menschen haben darin keinen Platz. Man fühlt sich an die UdSSR erinnert.

Die Schweiz kann und muß Vorbild sein für alle, die es mit der Demokratie ernst meinen. Besonders die Geschichte Deutschlands weist große Parallelen zur Geschichte der Schweiz auf. Die freien Reichsstädte in der Zeit des Feudalismus, die Zünfte während des Mittelalters, die demokratischen Bewegungen während des 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und die der einzelnen Bundesländer, die zum Beispiel neben den Wahlen auch Abstimmungen zulassen, zeugen von einer Tradition, auf die bei der Durchsetzung direktdemokratischer Elemente zurückgegriffen werden kann.

Das deutsche Volk hat in der Nachkriegszeit nach dem verheerendsten Desaster der Menschheitsgeschichte bewiesen, wieviel Tatkraft und Initiative in ihm stecken. Aus eigenem Antrieb und in eigener Verantwortung hat man das Schicksal selbst in die Hand genommen und mit dem Wiederaufbau begonnen. Warum soll dieser Geist der Erneuerung nicht auch heute zum Tragen kommen? Für die Menschen in der Bundesrepublik und für die Entwicklung in Europa ist jedes ehrliche demokratischen Anliegen ein Segen.

 

Timo Keller ist Historiker und lebt in Zürich.


 
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