© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/01 20. April 2001

 
"Den Krieg will niemand"
Gerhard Konzelmann, Berater Yassir Arafats, über die Wurzeln des Nahost-Konfliktes und die Zukunft des Palästinenserführers
Moritz Schwarz

Herr Konzelmann, Sie haben als Mitarbeiter der palästinensischen Autonomiebehörde und Berater Yassir Arafats unmittelbaren Einblick in die Verhältnisse in Palästina. Ist der Friedensprozeß im Nahen Osten endgültig gescheitert?

Konzelmann: Von "endgültig" kann man nicht reden, im Nahen Osten schon gar nicht. Der Friedensprozeß zieht sich hin, mag unterbrochen sein, aber er wird doch weitergehen. Was ist denn die Alternative? Daß die Beteiligten sagen: "Dann führen wir eben für alle Zeiten Krieg!" Das kommt auf gar keinen Fall in Frage. Es war mir von Anfang an klar, daß der Friedensprozeß, den Ehut Barak angefangen hatte, zu nichts führt, weil er die wesentlichen Probleme gar nicht angeschnitten
hatte.

Welche sind das im wesentlichen?

Konzelmann: Das Problem Jerusalem und das Problem der Heiligen Stätten wurde nicht angeschnitten. Was ist denn in Hebron los? Dort sind die Patriarchen beerdigt, das sind die heiligsten Stätten der Israelis. Und für die Palästinenser ist der Felsendom heilig.

In Ihrem neuen Buch stellen Sie die These auf, der Kern des Konfliktes seien eigentlich die Heiligen Bücher auf beiden Seiten. Was meinen Sie damit?

Konzelmann: Der Felsendom, so sagt die 17. Koransure, wölbt sich über einer Steinplatte, auf der der Prophet Mohammed gestanden habe und von dort aus in den Himmel aufgestiegen und auch wieder zurückgekommen sei, um den Leuten zu sagen, wie der Islam beschaffen ist. Solche Erinnerungen sind unvergessen und tief eingefräst in die Gemüter, und das ist der eigentliche Punkt. Natürlich kommen noch alle möglichen anderen Probleme dazu, Streit um das Wasser, Streit um das Land, aber der religiöse Hintergrund entgeht den Europäern, weil die Europäer die Religion nicht sonderlich ernst nehmen. Dieses Mißverständnis zu erklären, dazu dient das Buch.

Deshalb der Titel "Dies Land werd ich Deinen Kindern geben"?

Konzelmann: Ja, denn das hat Gott zu Abraham gesagt. Und dieses Versprechen wird bis heute ernst genommen.

Das Land ist also beiden Völkern verheißen?

Konzelmann: Und die Moslems, also die Palästinenser, sind der Meinung, daß Stellen im Koran belegen, Gott habe dieses Versprechen gegenüber den Kindern Israels wieder aufgehoben. Das Land sei dann den Moslems zugesprochen worden.

Sie sind duch Ihre über dreißigjährige Korrespondententätigkeit zum intimen Kenner des Nahen Ostens geworden. Vor sieben Jahren wurden Sie schließlich Berater der palästinensischen Autonomiebehörde.

Konzelmann: Arafat selbst, den ich seit 30 Jahren kenne, fragte den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Erwin Teufel, ob man mich nicht zum Aufbau von Rundfunk und Fernsehen nach Palästina abstellen könne. Ministerpräsident Teufel hatte sich dann an meinen Intendanten, den damaligen Chef des Süddeutschen Rundfunks, Hermann Fünfgeld, gewandt. So wurde ich nach Gaza und nach Ramallah delegiert. Ich sollte helfen, daß ein Rundfunk nach deutschem Vorbild, also mit öffentlich-rechtlicher Struktur entsteht. Sogar mit einem Rundfunkgesetz, das sich an dem des damaligen SDR orientiert hat, aber das hat sich nicht durchsetzen lassen. Es gibt in der ganzen arabischen Welt, Israel inklusive, keinen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das läßt sich dort nicht praktizieren, und heute ist es natürlich Arafats Rundfunk, sein Sprachrohr.

Im März vorigen Jahres ist es Ihnen gelungen, Arafat zu einem Besuch in Deutschland zu bewegen.

Konzelmann: Es war ein Wunsch meines neuen Chefs, des Intendanten des neuen Sudwestrundfunks, Peter Voß, Arafat doch mal nach Stuttgart zu holen. Und Arafat kam gerne nach Stuttgart. Na, und bei der Gelegenheit hat er auch noch in Berlin vorbeigeschaut.

In welchem Zustand ist die Autonomiebehörde – der US-Botschafter in Israel, Martin Indyk, spricht von einem "Zustand der Semi-Anarchie und Bandenherrschaft"?

Konzelmann: Die Autonomieverwaltung arbeitet nach dem im Nahen Osten typischen Scheichprinzip. Die westlichen Journalisten, die dahin kommen, verstehen das allerdings zunächst einmal nicht. Sie stellen sich vor, man überträgt einfach europäische Verhältnisse auf die Situation dort. Tatsächlich funktioniert es dort aber nicht wie bei uns, daß verschiedene Interessengruppen in einem Gremium zusammenarbeiten, jeder seine Meinung sagt und man zu einer gemeinsamen Entscheidung kommt. Das Scheichsystem bedeutet, es gibt immer nur einen Mann, der bestimmt. Und der Scheich ist noch immer Yassir Arafat, da gibt es gar keinen Zweifel. Die anderen – und auch das gehört zum Scheichprinzip – warten bloß, daß der Scheich einen entscheidenden Fehler macht und man selber Scheich werden kann. Bis dahin aber tun sie möglichst wenig, denn wenn du wenig tust, machst du auch wenig Fehler. Und so hat Arafat zwar viele Leute um sich herum gesammelt, um sie an sich zu binden, aber richtig effektiv sind eigentlich nur er und Nabil Sha‘ath.

Der Minister für Planung und internationale Zusammenarbeit?

Konzelmann: Das ist ein sehr effektiver Kopf, und die beiden ergänzen sich sehr gut. Aber das Problem reicht noch tiefer: In den autonomen Gebieten haben wir es mit zwei Bevölkerungsgruppen zu tun, deren Zusammenleben nicht richtig funktioniert. In Ramallah und am Westufergebiet des Jordans haben wir die bürgerliche Gesellschaft der alten Honoratioren, die noch immer funktioniert. Dazu gehören zum Beispiel die Husseinis, das ist die Familie des ehemaligen Großmufti von Jerusalem. Diese Familie ist immer noch sehr wichtig. Solche Familien gibt es in Gaza nicht. Gaza war nach 1948, nach der Gründung des Staates Israel, ein riesiges Flüchtlingslager, daher herrscht hier eher der revolutionäre Typ vor. Die wollen den Kampf und demzufolge eine revolutionäre Autonomieverwaltung haben. In Gaza haben wir auch eine sehr starke islamische Ausrichtung durch zwei islamische Universitäten. Dort herrscht sowieso die Parole: "Israel ist ein Staat, der verschwinden muß." Man beruft sich auf den Propheten Mohammed, der gesagt hat, er arbeite nicht mit den Juden zusammen. Und dann haben wir noch die Leute, die Arafat aus Tunis mitgebracht hat. Dort hatte er ja in der Kampfzeit seine Exilregierung. Die Tunis-Leute beginnen nun die anderen zu verdrängen. Und nun muß der Scheich aus allen Gruppen so rekrutieren, daß sich keiner benachteiligt fühlt und niemand beginnt, gegen ihn zu operieren. Dem trägt Arafat Rechnung, und deshalb hat er in der Verwaltung natürlich einen Wasserkopf angesammelt. Aber besser so, als daß in der Behörde der Bürgerkrieg ausbricht.

Aber funktionierte die Behörde zu Anfang nicht besser, so daß hier auch nach palästinensischen Maßstäben von einer Lähmung gesprochen werden kann? Man fragt sich, ob Arafat noch Herr im Hause ist und ob er statt aufzubauen nicht nur noch damit beschäftigt ist, den Status quo zu halten.

Konzelmann: Natürlich ist die Situation seit der Intifada ganz automatisch schlechter geworden. Und wenn die Gewalt regiert, dann ist natürlich auch keine Verwaltung richtig funktionsfähig. Zudem fangen jetzt die einen an, die Sache dann eben doch im Kampf ausfechten zu wollen, während andere nun finden, früher sei es doch besser gewesen und man sollte mit den Israelis zu einer Übereinkunft kommen.

Was wird passieren: Scheitert die Autonomiebehörde, oder wird sie sich am Ende doch durchsetzen?

Konzelmann: Die Frage ist, was geschieht mit Arafat? Der Mann ist Jahrgang 1928, und hat natürlich, deutlich gesagt, ein Hundeleben gehabt. Er war Chef einer Kampforganisation, immer in der Angst, "umgelegt" zu werden, entweder von den Israelis oder auch von Rivalen unter den eigenen Leuten. Das zehrt gewaltig an den Nerven. Wie lange hält er nun in seinem hohen Alter noch durch? Sein Geist ist noch überaus rege, und alles, was er sagt, hat Hand und Fuß. Aber einmal ist es eben doch zuviel, und die Frage ist, wer kommt danach? Zum Scheichprinzip gehört nämlich auch, keinen Nachfolgter zu bestimmen.

Denn der könnte gefährlich werden?

Konzelmann: Vor allen Dingen deshalb, weil sonst alle Leute zu dem Nachfolger rennen und nicht mehr zu ihm. Nach dem Motto: " Warum nicht gleich zum kommenden Mann? Was reden wir denn noch mit dem Alten?" Arafat war 35 Jahre lang Chef einer Kommandoorganisation, jetzt muß er einen Staat regieren. Man braucht zum Regieren eines Staates einen anderen Typ Mann als zum Kampf. Andererseits ist er die einzige Figur, die bei beinahe allen Palästinensern Autorität besitzt, eben weil er diesen Kampf geführt hat. Er ist das Symbol ihres gemeinsamen Kampfes.

Bei manchen gilt er aber schon als Verräter, weil sie den Friedensprozeß als Ausverkauf sehen.

Konzelmann: Ja, die gibt es. Die Frage ist natürlich, was hat man wirklich erreicht? Das Autonomie-Gebiet ist ein Flickenteppich von schwarzen Punkten, die in der Hand der Autonomiebehörde sind. Ringsum wird das Land von den Israelis kontrolliert und verwaltet. Man hat als Palästinenser keinen freien Zugang etwa nach Ramallah, Bethlehem oder Jericho. Man sitzt im Bereich seiner Stadt fest. Das ist nicht die Grundlage für einen Staat. Natürlich kommt unter den Leuten da Zweifel auf: "Was haben wir erreicht? Überhaupt nichts!" Natürlich hatte man sich vorgestellt, jetzt würde ein Staat entstehen.

Aus der Darstellung der Israelis gewinnt man den Eindruck, Arafat wolle den Frieden gar nicht. Unterschwellig nutze er seine neuen Möglichkeiten, um die Konfrontation zu betreiben.

Konzelmann: Das ist Ariel Sharons Taktik, diesen Eindruck gegenüber der Weltöffentlichkeit zu erwecken. Nach jeder Konfrontation, nach jeder Schießerei beschuldigt Sharon Arafat als einzig Verantwortlichen. Er versucht Arafat international zu desavouieren. Die Frage ist, ob die Amerikaner da mitmachen. Die Israelis sagen: "The golden age of Arafat in Washington is over."

Es sieht doch durchaus danach aus?

Konzelmann: Natürlich hatte er zu Clintons Zeit wirklich Zugang zur amerikanischen Regierung, und seine Wünsche wurden im wesentlichen beachtet – jetzt werden sie wohl eher beiseitegeschoben. Bush verfolgt in der Tat mit Ariel Sharon die Taktik, halten wir Arafat jetzt mal "auf Null" und sehen wir mal, was passiert.

In den autonomen Gebieten kommt es aber immer wieder zu Übergriffen und Attentaten gegen Israelis. Es ist doch nicht falsch zu konstatieren, daß die Sicherheitsinteressen der Israelis dort von der Polizei der Autonomiebehörde nicht wahrgenommen werden?

Konzelmann: Die Frage ist, ob sie das überhaupt kann. Das ist ein fast unlösbares Problem. Die Israelis verlangen von Arafat quasi, Handlanger der israelischen Polizei zu sein. Glauben Sie, das würde er politisch lange überleben?

Wenn die Sicherheit der Israelis aber nicht gewährt ist, wie soll dann der Friedensprozeß je weitergehen?

Konzelmann: Das ist das Dilemma. Man braucht viel arabisch-orientalische Geduld im Nahen Osten, nervöse europäische Hektik hat hier überhaupt keinen Sinn.

Hat man denn die Zeit, wenn im Hintergrund immer die Möglichkeit eines neuen Krieges droht?

Konzelmann: Im Moment droht kein Krieg. Den Krieg will derzeit niemand, und niemand ist dafür gerüstet.

Der Westen ist daran gewöhnt, daß wie selbstverständlich immer Israel gewinnt. Könnte es da auch einmal ein böses Erwachen geben?

Konzelmann: Die Palästinenser sagen sich immer wieder, die Israelis heute seien nicht mehr die Israelis von vor 20 Jahren. Heute habe man es ist nicht mehr mit der Gründergeneration zu tun. Die Israelis von heute wollten eher die Bequemlichkeit, den Frieden und das schöne Leben. "Wir aber", sagen sie sich, "sind leidensfähiger". Dennoch sind die Palästinenser in einer schlechten Position, und daher wollen auch sie den Krieg nicht. Der einzige, der ihn will, ist der Irak unter Saddam Hussein.

Aber der ist ja im Moment neutralisiert.

Konzelmann: Ich komme häufiger nach Bagdad und muß sagen, dort sieht die Sache etwas anders aus. Saddam mobilisiert derzeit eine Armee, die für Palästina kämpfen soll. Er selbst sagt – allerdings übertreibt er da sicher maßlos –, sie bestehe bereits aus 6,3 Millionen Mann. Dennoch ist die Bereitschaft da. Ich vermute, daß die neue Regierung in Amerika wahrscheinlich das Problem am Persischen Golf für gewichtiger hält als das in Palästina. Und ich befürchte, daß Präsident Bush junior gerne zu Ende bringen würde, was sein Vater nicht zu Ende gebracht hat, nämlich Saddam Hussein hinwegzufegen.

Arafat war einst ein Terrorist, blutig und skrupellos. Hat er sich wirklich gewandelt? Oder würden Sie sagen, er war nie wirklich ein Terrorist, sondern ein Freiheitskämpfer für sein Volk, der gezwungen war, zum schmutzigsten aller Mittel zu greifen?

Konzelmann: Gegenfrage: War Menachim Begin ein Terrorist? Auch Begin hat zu einer bestimmten Zeit den Terrorismus als ein mögliches Mittel betrachtet, sich bemerkbar zu machen und den Kampf gegen die damals übermächtigen Engländer zu führen. Tatsächlich ist Begin für Arafat ein gewisses Vorbild gewesen. Terrorismus ist eine Frage der Definition.

Der gezielte Angriff auf Zivilisten ist in jedem Fall eine Form von Terrorismus. Die Frage aber ist, wie Arafat sich selbst sieht und ob er sich gewandelt hat.

Konzelmann: Nein, er sieht das als eine Einheit – das gehört zusammen. Natürlich ist er erfüllt von alten Erinnerungen, aber die Wunden, die damals geschlagen wurden, hat er überwunden. Arafat hat schon so viel verwinden müssen, ich kenne ihn seit dreißig Jahren. Nach den Kämpfen in Amman Ende der sechziger Jahre hat er gesagt, diesem König Hussein gebe er nie mehr die Hand. Ich habe ihn dann vor einiger Zeit einmal darauf angesprochen. Man muß darüber hinwegkommen und das vergessen, erwiderte er. Arafat hat verstanden, daß das "Nein" zu nichts führt. Aber es ist schon seltsam, den Menschen dort ist die Vergangenheit allgemein viel gegenwärtiger als etwa uns. Vor einiger Zeit sagte Arafat zu mir: "Wir warten doch noch immer auf die Implementierung des Teilungsplanes der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1947." So denken sie.

Wie ist Arafat privat? – Oder ist er ganz und gar nur der Führer der Palästinenser?

Konzelmann: Nein, überhaupt nicht. Er ist auch ein Mensch. Zum Beispiel liebt er deutsche klassische Musik. Er hatte mich vor einiger Zeit darum gebeten, ihm doch bitte eine "Die Unvollendete" von Schubert auf Schallplatte mitzubringen, die wolle er so gern haben. Er hat sich dann riesig gefreut. Er hat auch Frau und Kind, das er sogar wirklich sehr liebt.

"Die Unvollendete" – wie vielleicht sein Lebenswerk?

Konzelmann: Es ist zu befürchten, daß er die Gründung eines palästinensischen Staates nicht mehr erleben wird.

 

Gerhard Konzelmann Journalist, Nahostexperte und seit 1994 Mitarbeiter der Palästinensischen Autonomiebehörde und Berater Yassir Arafats. Geboren 1932 in Stuttgart in der Libanonstraße, arbeitete er ab 1956 als Fernsehjournalist beim Süddeutschen Rundfunk. 1964 wurde er Mitglied der Programmdirektion der ARD. 1968 ging er für seinen Sender als Ara-bien-Korrespondent nach Beirut, nachdem sein Vorgänger dort einem Anschlag zum Opfer gefallen war. Danach moderierte Konzelmann das ARD-Auslandsmagazin "Weltspiegel". Er produzierte eine Vielzahl von Fernsehdokumentationen und verfaßte zahlreiche Bücher zur Situation im Nahen Osten.Konzelmann erhielt mehrere Fernsehpreise.

 

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