© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/01 13. April 2001

 
Familie als Sprengsatz des Sozialsystems
Sozialversicherung: Das Urteil zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Pflegeversicherung wirft viele Fragen auf
Bernd-Thomas Ramb

Mehr als jede politische Partei hat sich das Bundesverfassungsgericht im letzten Jahr-zehnt als Hüter der Familie und ihrer staatstragenden Rolle erwiesen. Dabei wurde stets auch die ungerechte finanzielle Belastung der Familie gegenüber kinderlosen Ehepaaren oder Alleinstehenden bemängelt. Das jüngste Urteil zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Pflegeversicherung weist folgerichtig weit über die Ungerechtigkeit der staatlichen Belastung der Familie in der Frage der Pflegekosten hinaus.

In der Urteilsbegründung wird ausdrücklich auf seine Bedeutung auch für andere Zweige der Sozialversicherung hingewiesen. Nicht grundlos signalisiert deshalb die Opposition neuen Mut bei der Bekämpfung der Kabinettsvorlage zur Reform der staatlichen Rentenversicherung, wenngleich die vorangegangene Resignation wegen der absehbaren Abstimmungsniederlage nicht sehr überzeugend klang. Neben der Rentenversicherung dürften aber auch die Kranken- und Arbeitslosenversicherung – und nicht zuletzt die Sozialhilfeverordnung – in das Fahrwasser des Verfassungsgerichtsurteils geraten. Der Knackpunkt Familie und die Kontroverse um die gerechte Anrechnung von Nachkommen könnten den notwendigen revolutionären Veränderungen der staatlichen Versorgungssysteme einen entscheidenden Impuls verschaffen. Das Karlsruher Urteil würde damit die Politiker zwingen, endlich eine ihrer originären Aufgaben zu erfüllen und Weichenstellungen über den beschränkten Horizont einer Wahlperiode hinaus vorzunehmen.

Wie in ihrem Urteil über die zu hohe steuerliche Belastung der Familien haben die Verfassungsrichter durch die jetzige Finanzierungsdiskussion wieder einmal auf die grundlegenden Schwächen des staatlichen Sozialsystems aufmerksam gemacht. Es wird nicht nur generell zwischen wirtschaftlichen Leitungsträgern und Leistungsgetragenen umverteilt, zwischen den beiden Gruppen liegen auch Generationen.

So liegt die Brisanz des Urteils weniger in den monierten partiellen Ungerechtigkeiten, wenn etwa bestimmte Personenkreise wie Sozialhilfeempfänger überhaupt nicht in die Pflegeversicherung einzahlen oder als Empfänger von staatlich finanzierten Pflegeleistungen ausgeschlossen sind. Diese Ungerechtigkeiten sind bis zum Jahresende zu beseitigen. Als besonders untragbar und bis 2004 zu bereinigen gilt die Doppelbelastung von Familien mit Kindern, die gleich hohe Beträge wie kinderlose Ehepaare in die Versicherung einzahlen müssen, gleichzeitig aber auch die finanzielle Last der Kinderversorgung tragen müssen, während die anderen allenfalls geringfügig mehr Steuern bezahlen.

Der Streitgegenstand Pflegeversicherung ist ein Paradebeispiel für die grundsätzliche Nachkommensproblematik im staatlichen System der intergenerativen Lastenverteilung. Pflegeleistungen werden überwiegend im Alter erforderlich. Im klassischen Falle werden die Alten von ihren eigenen Kindern gepflegt, so die familiäre Struktur der ethischen Grundsätze erhalten geblieben ist. Kinderlose Pflegebedürftige sind faktisch auf die Pflegeleistung der Kinder anderer Leute angewiesen. Gleiches gilt für die allgemeine Versorgung der Alten. Sofern sie diese oder die pflegerischen Dienstleistungen aus ihrem Privatvermögen bezahlen können, besteht kein Gerechtigkeitsdefizit. Anders ist es jedoch bei einem Anspruch auf staatsfinanzierte Leistungen. Diese müssen von der nachfolgenden Generation erbracht werden. Die grundsätzliche Abkehr vom Kapitaldeckungsprinzip zum Umverteilungsprinzip erweist sich wieder einmal als Kardinalfehler bei der staatlichen Organisation der Sozialversicherung. Die scheinbaren Vorteile der jetzt Lebenden gehen voll zu Lasten der nächsten Generationen.

Zudem bleibt die Frage der Verteilung der aktuellen Belastungen unter der heutigen Generation. Die Doppelbelastung der heutigen Ehepaare mit Kindern läßt sich auf unterschiedliche Weise mit entsprechend verschiedenen Nebenwirkungen lindern. Erstens könnte die individuelle Belastung durch Unterschiede in den Beitragssätzen verändert werden. Eheleute mit Kindern zahlen weniger Beiträge, Kinderlose oder Alleinstehende entsprechend mehr. Alle erhalten aber im Versicherungsfall die gleichen Leistungen. Eine Differenzierung der Beitragssätze würde jedoch die Abkehr vom Prinzip der Kapitaldeckung späterer Leistungen verschärfen. Gleiches trifft für die spätere Erhöhung der Leistungen bei jetzt gleich hoher Beitragsbelastung zu, wie dies etwa im Rahmen der Reform der Rentenversicherung diskutiert wird. Intakte Familien, bei denen die Nachkommen Ernährung und Pflege der Alten übernehmen, könnten zudem auf diese Weise doppelt profitieren. Würde dies aber ausgeschlossen, wäre die ethische Umwertung des Familiengedankens eingeleitet.

Zweitens könnte das gegenwärtige Familieneinkommen allgemein erhöht werden. Familien mit Kindern erhalten günstigere Steuersätze oder besondere staatliche Transferleistungen. Eine Steuererleichterung betrifft jedoch nur die Steuerzahler und da diejenigen mit den höheren Steuersätzen verstärkt, wenn nicht Pauschbeträge von der Steuerschuld gestrichen werden. Eine Erhöhung der Transferzahlungen wie Kindergeld, Erziehungsgeld oder ähnliches käme einer Lösung der Einkommensproblematik kinderreicher Familien im verfassungsmäßigen Sinne sicher am nächsten, dafür sind jedoch "Gegenfinanzierungen" wie beispielsweise eine Mehrwertsteuererhöhung zu entwickeln, die sich im Wortsinne schnell "gegen" den eigentlichen Zweck der Erhebung richten und die Familien zusätzlich belasten könnten. In allen Fällen bleibt das generelle Problem der staatlich organisierten Sozialsysteme: die staatliche Disposition der nächsten Generation, die am Entscheidungsprozeß selbst nicht beteiligt ist und sich so ihren Verpflichtungen entzieht. Zumal die nachfolgende Generationenstärke immer geringer wird.

Eine Horrorvision, die das jetzige Sozialversicherungssystem langfristig sichern könnte, wäre die Aufzucht von genetisch programmierten Reagenzglasmenschen, die in den nachfolgenden Generationen zu faktischen und finanziellen Pflegeleistungen bereit sind. Die Möglichkeiten kann die Bundesregierung über ihre humangenetische Machbarkeitsdiskussion vorbereiten. Der Wertung als Schreckensmodell könnte die gegenwärtig in der Bildungsphase befindliche Bundesethikkommission entgegenwirken. Die Zulassung gleichgeschlechtlicher Ehen wären zudem die ideale Basis für die Ausweitung pseudofamiliärer Kinderaufzucht. Pragmatischer aber dürfte die staatliche Organisation der Aufzucht und Erziehung sein. Die Entwarnung vor Orwells "1984" wäre also zu früh erfolgt.


 
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