© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/01 13. April 2001

 
Die Einsamkeit kann grenzenlos sein
Schulen: Eine neue Studie beleuchtet die zunehmende Gewalt gegen Lehrer
Martin Lohmann

Eine bundesweite Fragenbogenaktion des Studenten Dirk Varbelow vom Fachbereich Sozialwesen an der Gesamthochschule Kassel (GhK) hat neue Erkenntnisse über die Gewalt von Schülern gegen Lehrer ergeben. Obgleich die anonymisierten Fragebögen, die von 2.286 Lehrern (1.338 Lehrerinnen und 948 Lehrer aus allen Schulformen ausgenommen Grundschule) beantwortet wurden, erst noch in den nächsten Monaten vollständig ausgewertet werden sollen, ergibt sich schon jetzt ein sehr beängstigendes Bild.

Als wichtigstes Resultat ergab die Auswertung, daß die verbale Gewalt durch Schüler gegen Lehrer zunehme. Ein hessischer Schulrektor, der die Vorabergebnisse als brauchbar bezeichnete, bestätigte auf Nachfrage der JF den Befund: "Die Hemmschwelle sinkt."

Wie Dirk Varbelow gegenüber der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) erklärte, sei es die mangelhafte Erziehungsarbeit des Elternhauses, die sich negativ auf den Lehreralltag auswirke. "Kinder dürfen ihre Eltern beschimpfen. Diese heutige Grenzen- und Respektlosigkeit überträgt sich auf die Schule", so der GhK-Psychologe Ewald Rumpf, der die Arbeit betreut. Viele Lehrer beklagten sich, daß sie durch ihre Ausbildung nicht auf diese kritische Situation hin vorbereitet würden. Kritisiert wurden vor allem der Lautstärkepegel, die Lernunwilligkeit der Schüler und überdimensionierte Klassengrößen.

Der Druck auf Lehrerinnen sei besonders hoch, besonders durch sexuelle Belästigungen seitens pubertierender Jungen. Eine junge Hauptschullehrerin erklärte, daß sich im Biologieunterricht die Mehrheit der männlichen Schüler "wie Schweine" benehme, was auch Handgreiflichkeiten einschließe. 8,5 Prozent der Lehrerinnen bestätigten verbale sexuelle Angriffe (gegenüber 11,6 Prozent der Männer), 16,7 Prozent der Frauen (7,7 Prozent Männer) leichte sexuelle Angriffe wie Berührungen. Sexuelle Belästigungen wie Begrapschen und Bedrängen bejahten 8,1 Prozent der Lehrerinnen (4,6 Prozent Männer).

Auch das gewandelte Bild des Lehrers in des Gesellschaft habe Auswirkungen. Sie seien nicht mehr die Respektspersonen wie früher, gelten als faul und haben angeblich zu lange Ferien. Als Gegenmaßnahmen forderten Befragte unter anderem mehr Schulsozialarbeit, eine bessere Zusammenarbeit mit den Eltern sowie Polizeipräsenz auf dem Schulhof zur Bekämpfung des Drogenkonsums.

Weiterhin wurde folgendes aus den Fragebögen gewonnene Zahlenmaterial bereits in der HNA veröffentlicht: Die Frage, ob Schüler vorsätzlich den Unterricht stören, bejahten:

- 96,7 Prozent der Lehrer aus Sonderschulen

- 84,2 Prozent aus Hauptschulen

- 87,7 Prozent aus Realschulen • 85,8 Prozent aus integrierten Gesamtschulen

- 79,1 Prozent aus kooperativen Gesamtschulen

- 86 Prozent aus Gymnasien.

Die Frage, ob ein Lehrer bereits seinen Unterricht abbrechen mußte, weil er gegen die Schülerschaft nicht mehr ankam, bejahten:

- 47,7 Prozent aus Sonderschulen

- 21,7 Prozent aus Hauptschulen

- 24 Prozent aus Realschulen

- 16,1 Prozent aus integrierten Gesamtschulen

- 11,3 Prozent aus kooperativen Gesamtschulen

- 3,5 Prozent aus Gymnasien.

Die Frage, ob Lehrern nach Schulschluß von Schülern aus Gründen der Belästigung aufgelauert wird, bejahten:

- 14 Prozent aus Sonderschulen

- 14,9 Prozent aus Hauptschulen

- 20,4 Prozent aus Realschulen

- 19,6 Prozent aus integrierten Gesamtschulen

- 8,8 Prozent aus kooperativen Gesamtschulen:

- 3,8 Prozent aus Gymnasien.

Aus diesem von Dirk Varbelow vorgestellten Material läßt sich folgendes schließen: Die gesellschaftliche Orientierungslosigkeit und der Werterelativismus haben bereits ernste Auswirkungen auf die Erziehungsarbeit der Eltern. Hinzu kommt der Druck durch die Politik, die entgegen den Vorgaben des Grundgesetzes Einfluß auf die Erziehungsarbeit nehmen will. So arbeitet die rot-grüne Bundesregierung weiterhin daran, sogar den "Klaps auf den Po" als Körperverletzung unter Strafe zu stellen. Das linksliberalistische Weltbild unterstellt jeder Form der Erziehung eine schädliche, manipulatorische Wirkung. In ihrer extremen Ausprägung stellt diese Denkschule sogar einen Zusammenhang von autoritärer Erziehung zum Dritten Reich her. Es liegt auf der Hand, daß sich derart seelisch perforierte Mütter und Väter mangels eines Konzepts nicht mehr gegen die "kleinen Monster" durchsetzen können.

Auch der mediale Druck hat Auswirkungen. Sendungen wie "Arabella" oder Teeniezeitschriften wie Bravo haben sich an die Stelle eines Erziehers gesetzt; was Kinder aus den niveaulosen Programmen vor allem der Privatender mitnehmen, muß zwangsläufig auch Konsequenzen auf ihr schulisches Verhalten haben. Die Ursache für die sexuelle Anmache durch Schüler dürfte nicht zuletzt auch in der durch die Medien beförderten Sexualisierung der Gesellschaft zu suchen sein.

Beim Abschneiden der Gesamtschulen wird man in Rechnung stellen müssen, daß hier überproportional viele Lehrer aus der 68er-Generation tätig sind. Ihnen muß unterstellt werden, daß sie aufgrund ihres Milieus nicht jede Belästigung als solche wahrnehmen, das reale Bild also erheblich von der durch die Fragebögen ermittelten Lage abweicht. Auch ist kaum zu erwarten, daß diese das Scheitern der ’68er Erziehungskonzepte eingestehen. Sie sind auch nicht ganz unschuldig am schlechten Ansehen der Lehrer in der Öffentlichkeit. "Die sehen ja genauso schlampig aus wie ihre Schüler. Wer soll da noch Respekt vor denen haben?" beklagte eine Mutter das äußere Erscheinungsbild mancher Lehrer.

Hinzu kommt, daß Gesamtschulen aus ideologischen Gründen auch im sozialpädagogischen Bereich überproportional besser mit Ressourcen ausgestattet sind als andere Schulformen, die es oftmals schon schwer haben, die Mittel zur Erhaltung ihrer Bausubstanz bewilligt zu bekommen. Manche Schule der traditionellen Form sähe anders aus, hätte sie den Status einer Gesamtschule.

Vor diesem Hintergrund stehen manche Lehrer – verlassen von der Politik, verachtet von der Öffentlichkeit, ohne Rückhalt durch die Schulleitung – grenzenlos einsam da, so daß das frühe Eintreten des "Burn-out"-Syndroms in dieser Berufsgruppe nicht weiter verwunderlich ist.

Erstes Interesse an der Studie zeigte die hessische Landesregierung, die von ihrer rot-grünen Vorgängerin einen Scherbenhaufen im Bildungswesen geerbt hat. Hier hat es sich, wie in vielen anderen Bundesländern auch, durchgesetzt, gegen aufsässige Schüler zum Beispiel keine Strafarbeiten und keine negativen Klassenbucheinträge einzusetzen. "Strafarbeiten" werden zwar nach wie vor erteilt, sollen jedoch nicht mehr als solche bezeichnet werden.

Mit der semantischen Neubewertung haben sie auch ihren erzieherischen Zweck verloren und damit mittelbar zu einem Autoritätsverlust des Lehrkörpers geführt. Auch hier setzten befragte Lehrer an, wenn sie einen schulinternen Maßnahmenkatalog forderten, der als "Strafgesetzbuch für die Schule" bezeichnet wurde. Ob sich allerdings eine derart "reaktionäre" Forderung unter den gegenwärtigen politischen Konstellationen durchsetzen läßt, ist fraglich.

Angesichts eines sich in den nächsten Jahren durch Überalterung des Lehrerkollegiums verschärfenden Lehrermangels sind diese neuen Erkenntnisse alarmierend. Wer von den Studienanfängern will unter solchen Bedingungen überhaupt noch den Lehrerberuf ergreifen?

 

Filmplakat für "Tötet Mrs. Tingle!": In dem US-Film planen Schüler den Mord an ihrer tyrannischen Geschichtslehrerin Mrs. Tingle. Er sollte zwei Tage, nachdem ein 15jähriger Schüler in einem Meißener Gymnasium seine 44jährige Lehrerin vor den Augen der Mitschüler erstochen hatte, bundesweit in deutschen Kinos starten.


 
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