© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/01 30. März 2001

 
Das Kreuz mit dem Stolz
Die deutschlandpolitischen Positionen von CDU, SPD und FDP vor 1989 tauchen die derzeitige Debatte um Nationalbewußtsein in ein fahles Licht
Christian Vollradt

Was steckt hinter den verbalen Kraftmeiereien, mit denen sich die Parteien in puncto Patriotismus gegenseitig überholen wollen? Als gelte es, erneut das Verdikt "Vaterlandslose Gesellen" zurückweisen zu müssen, behauptete der Bundeskanzler vergangene Woche, die SPD brauche "keine Belehrungen in Sachen Stolz auf unser Land".

Tatsächlich findet man in der langen Geschichte der Sozialdemokraten patriotisch Gesonnene wie Friedrich Ebert, Kurt Schumacher oder Fritz Erler. Doch die Aussage des Sozialdemokraten Artur Crispien auf dem Leipziger Parteitag 1922: "Wir kennen kein Vaterland, das Deutschland heißt" stieß in der SPD spätestens ab 1970 auf eine immer größere Zustimmung.

In den 1984 von ihrer Bundestagsfraktion beschlossenen Thesen zur Deutschlandpolitik wird deutlich, wie gründlich die SPD "Abschied von Deutschland" (so der einstige Schumacher-Vertraute Hans-Günther Weber) genommen hatte. Dort hieß es, die Nation sei nicht "identisch mit einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten", erstrebenswert sei vielmehr die "Stabilität der in Europa bestehenden Lage" – mit Stacheldraht und Schießbefehl ... 1987 konstatierte der damalige SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz das Scheitern der "nationalstaatlichen Geschichtsform", ein Jahr später verstieg sich sein Genosse Erhard Eppler zu der Behauptung, Europa brauche "um seines Friedens willen eine stabile, lebensfähige, selbstbewußte DDR", Willy Brandt prägte die berüchtigte Formulierung von der "Lebenslüge" Wiedervereinigung.

Äußerungen führender Sozialdemokraten in zeitlicher Nähe zur mitteldeutschen Revolution 1989 lassen sich mit dem derzeit vorgetragenen "Nationalstolz" schwer in Einklang zu bringen: Sei es, daß Peter Glotz den Gebrauch des Wortes Wiedervereinigung für "opportunistisch und widerwärtig" erklärte, sei es, daß Gerhard Schröder einerseits die Chancen auf Wiedervereinigung als nicht existent bezeichnete, andererseits feststellte: "Eine auf Wiedervereinigung gerichtete Politik ist reaktionär und hochgradig gefährlich." Und ausgerechnet an jenem denkwürdigen 9. November 1989 behauptete Freimut Duve im Sozialdemokratischen Pressedienst: "Die Mehrheit der Deutschen in der DDR und BRD wollen nicht zurück in einen Nationalstaat!"

Zu dieser Zeit forderte das Grundgesetz in seiner Präambel die Vollendung der Einheit Deutschlands als vorrangiges Ziel staatlichen Handelns. Mit Blick darauf stellt Gerd Schultze-Rhonhof fest, der Einheit der Nation könne "kein besonderer Wert innewohnen, wenn diesen Wert nicht auch die Nation an sich besitzt". Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß großen Teilen in der SPD die Nation wertlos erschien. Wie man auf etwas Wertloses stolz sein kann, bleibt der Einsicht verborgen. Vielmehr war in der Zeit der Teilung bei den meisten Linken die These populär, daß Deutschland seine "historische Schuld" zu sühnen habe und gerade die Überwindung der Nation beispielhaft sei. Man war geradezu stolz auf die "vaterlandslose Gesellschaft" (Hellmut Diwald). Die Vermutung liegt jetzt nahe, daß sich der Bundeskanzler mit seinem "Stolz auf unser Land" zu denen reiht, die der konservative Journalist Hugo Wellems bereits 1969 als "Kühlschrankpatrioten" bezeichnete, "die nur das Vaterland anerkennen, dessen wirtschaftliche Prosperität ihnen ... jeden Komfort der Zeit garantiert".

Eine von nationalem Selbstbewußtsein getragene Politik hätte gerade angesichts der Trauer und des Leidens an der deutschen Teilung die Wiedervereinigung als primäre Pflicht auffassen müssen. Doch daran erinnert zu werden, daß die Teilung tatsächlich Leid hervorrief, war im Westen zusehends unangenehm geworden. So plädierten Politiker wie Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder oder Günter Gaus für die Schließung der Zentralen Erfassungsstelle für Verbrechen des SED-Regimes in Salzgitter, die immerhin als staatliche Institution das Festhalten an der Erreichbarkeit der Wiedervereinigung manifestierte. Der heutige FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt nannte "Salzgitter" ein "Relikt des Kalten Krieges".

Sein Generalsekretär Guido Westerwelle verkündete vergangene Woche in der Frankfurter Allgemeinen, er sei "proud to be a German". Ergänzend zum Verfassungspatriotismus à la Habermas werde emotionale Leidenschaft für das Gemeinwesen benötigt, so Westerwelle. In seinem Beitrag stellte er fest: "Die traditionelle Linke in Deutschland hat immer noch nicht ihren Frieden mit der deutschen Nation gemacht." Nun konnte man dieses Phänomen in der FDP nach der Entmachtung Erich Mendes 1968 und der bis heute andauernden Zurückdrängung nationalliberaler Regungen ebenfalls beobachten. Ins Gedächtnis sollte gerufen werden, daß der Vorsitzende des FDP-Bundesfachausschusses für Deutschlandpolitik, William Borm (IM "Olaf"), die "volle Anerkennung der Zweistaatlichkeit" forderte. Und Außenminister Hans-Dietrich Genscher erklärte auf einer Abrüstungskonferenz 1984 in Stockholm: "Unser Bemühen um die Entwicklung und die Verbesserung unserer Beziehungen zur DDR ist europäische Friedenspolitik. Wir werden den Weg des Dialogs und der langfristig angelegten Zusammenarbeit fortsetzen ..." Daselbst mahnte jedoch der US-Außenminister George Shultz, daß "eine künstliche Grenze diesen Kontinent brutal getrennt, ja, eine seiner großen Nationen grausam gespalten" hatte und daß die Aufrechterhaltung dieser Spaltung den Frieden gefährde und nicht garantiere.

Typisch ist wieder, daß die CDU, die mit Hilfe der "Nationalstolz-Debatte" ihre Kampagnenfähigkeit erneut unter Beweis stellen wollte, im Wahlkampf plötzlich ihr konservatives Potential entdeckt. Zweifelhaft bleibt jedoch, ob die Unionsparteien tatsächlich seit jeher Nationalgefühl und Patriotismus als Maximen ihrem politischen Handeln zugrunde gelegt haben. Dabei muß noch nicht einmal auf die deutschlandpolitischen Debatten der frühen fünfziger Jahre zurückgegriffen werden, in denen die SPD unter Kurt Schumacher der Adenauer-Regierung die Preisgabe der Einheit zugunsten der Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis vorwarf.

Umgekehrt nutzte die Union ihre Zeit als Opposition, um der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition mit Blick auf den Warschauer Vertrag und den Grundlagenvertrag mit der DDR den Ausverkauf der deutschen Interessen vorzuwerfen. Wie einst die SPD versuchte nun das Unionslager mit der These "Verzicht ist Verrat" bei Nationalgesinnten und insbesondere bei den Vertriebenen zu punkten. Als die Union unter Helmut Kohl wieder an die Macht kam, arrangierte sie sich zusehends mit dem Status quo der Teilung Deutschlands und stellte das Streben nach der deutschen Wiedervereinigung der europäischen Einigung hintenan. Wenn nicht 1989 die Mitteldeutschen den Ruf "Wir sind ein Volk" erhoben hätten, wäre der westliche Teilstaat im Laufe der neunziger Jahre noch weiter von ihnen abgerückt. Die Berliner Grünen übernahmen in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle, als sie forderten, man solle die Übersiedler als "Nicht-EG-Ausländer" behandeln.

Es war die CDU-Politikerin Dorothee Wilms, die als Ministerin für innerdeutsche Beziehungen während eines Vortrages in Paris 1988 feststellte, daß es die Wiedervereinigung in absehbarer Zeit nicht geben werde: "Der Nationalstaat um seiner selbst willen, das ist weder der Auftrag des Grundgesetzes noch entspricht dies unserem politischem Bewußtsein". Ferner betrachtete man – die deutschen Ostgebiete im Blick – "den territorialen Aspekt als nachgeordnet". Diese Einschätzung mag nur denjenigen verwundern, der vernachlässigt, was der spätere "Kanzler der Einheit" 1987 in einem Interview bekräftigte: "Die Nato ist die Staatsräson der Bundesrepublik".

Der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler ließ 1988 in den deutschlandpolitischen Leitantrag den Satz aufnehmen: "Das Ziel der Einheit ist von den Deutschen nur mit Einverständnis und Unterstützung ihrer Nachbarn in West und Ost zu erreichen." Der Spiegel begrüßte diese Formulierung: "Abschied von alten Einheitsträumen".

Nichts gegen das Bekennertum von Laurenz Meyer und Co. Der behauptete Patriotismus muß sich allerdings an seiner "Umsetzung" in politische Praxis messen lassen. Von einer an vorrangig deutschen Interessen orientierten Politik war in der Regierung Kohl auch gerade nach der Wiedervereinigung nicht viel zu spüren. Das betrifft den Verzicht auf Ostdeutschland im Grenzanerkennungsvertrag mit Polen 1990 ebenso wie die mit dem EU-Beitrittskandidaten Tschechei geführten Verhandlungen, in denen die deutsche Seite nicht auf Rücknahme der Benesch-Dekrete bestand. Sogar in Fragen der National- und Geschichtserziehung herrschte bisher stets das selbstverschuldete Dilemma der Union vor, daß sie im Sturm der Entrüstung des politischen Gegners einknickt: Das war so, als der baden-württembergische Kultusminister Gerhard Mayer-Vorfelder 1986 veranlaßte, daß die Schüler alle drei Strophen der Nationalhymne gelehrt werden sollten. Nach Rücktrittsforderungen im Landtag und in der Presse sorgte Ministerpräsident Lothar Späth für eine Rücknahme dieser Anordnung. Und Richard von Weizsäcker liquidierte vier Jahre später als Bundespräsident handstreichartig die ersten beiden Strophen, die bis dato – wenn auch bei offiziellen Anlässen nicht gesungen – noch zur Hymne gehörten.

Als 1995 die "Initiative 8. Mai" in einer Feierstunde in München der fünfzig Jahre zurückliegenden Kapitulation gedenken und die aus der kommunistischen Dikatatur in die neue Bundesrepublik transferierte These von der ausschließlichen "Befreiung" relativieren wollte, mußte der als Festredner vorgesehene Ehrenvorsitzende der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger – nachdem der innerparteiliche Druck zu stark geworden war – seine Zusage zurückziehen.

Ob im November vorigen Jahres die durch Fraktionschef Friedrich Merz ins Rollen gebrachte Leitkultur- oder jetzt die Nationalstolz-Debatte: Die CDU setzt sich dem Verdacht aus, sie mobilisiere mit diesen Kampagnen Konservative kurzfristig für ihren Wahlkampf, um sich danach wieder von ihnen klammheimlich zurückzuziehen. So geschehen in der Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsangehörigkeit. Nach der siegreichen Hessenwahl ist es auf einmal still geworden um dieses Thema. Und die CDU-Bundestagsabgeordnete Rita Süssmuth steht der Zuwanderungskommission der rot-grünen Bundesregierung vor. Auf solche Leit-Multi-Kultur kann man wahrlich stolz sein.


 
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