© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Über die Schulter blicken
Bei der Lektüre fremder Tagebücher spielt ein voyeuristischer Zug mit
Tobias Wimbauer

Tagebücher sind Mitteilungen an den besten Freund und ärgsten Feind zugleich: Briefe an sich selbst. Im Tagebuch wird jeder zum Be-Schreiber seines Lebens, sein eigener Autor. Das Tagebuch ist gleichsam das ausgelagerte Gedächtnis, schriftgewordene Erinnerung. "Ich will nicht beschreiben, wie es hätte sein können, sondern, wie es war", formulierte Ernst Jünger seinen Anspruch als Tagebuchschreiber.

Tagebüchern können "öffentlichen" oder "privaten" Charakter haben. Auf der einen Seite also solche Tagebücher, die zu Lebzeiten publiziert werden und in Hinblick auf ihre Veröffentlichung konzipiert und geschrieben wurden, man denke etwa an die Tagebücher Jüngers. So notierte Jünger am 12. Juli 1984, er führe Tagebuch, "weil es mir ein Bedürfnis ist. Das Gefühl, daß mir einer dabei über die Schultern blickt, halte ich insofern für eine Bereicherung, als es die Verantwortung erhöht". Das mögliche Urteil eines Dritten wird bei der Niederschrift bereits berücksichtigt. Und auf der anderen Seite jene Tagebücher, die zunächst nur für den Schreiber selbst gedacht sind, beispielsweise etwa die schonungslose Selbstbeschau der Brigitte Reimann, die sich selbst so arg ausgeliefert war und die ihr tägliches Leben, von welchem sie gleichsam aufgesogen wurde, haargenau notierte.

Warum will man überhaupt fremde Tagebücher lesen? Gewiß erhofft man sich einen Einblick in das Leben des Verfassers und möchte vielleicht auch – so es sich um die Diarien eines Schriftstellers handelt – Aufschluß erhalten über die Entstehung des ein oder anderen Werkes. Man sucht vielleicht auch nach der "authentischen" Interpretation, etwa eines Gedichtes.

Manch einer erhofft sich kleine Bosheiten über Zeitgenossen des Autors und wird gelegentlich fündig: etwa in Helmut Kraussers Tagebüchern mit herrlichen Seitenhieben auf den zeitgenössischen Kulturbetrieb in Deutschland oder in Carl Schmitts Quasi-Tagebuch, dem "Glossarium".

Bei der Lektüre fremder Tagebücher spielt auch ein voyeuristischer Zug mit: bei einigen Tagebüchern erhält der Leser das Gefühl, etwas nicht ganz Erlaubtes zu tun. Das Gefühl, einen heimlichen Blick in das Kämmerlein des Schreibers geworfen zu haben; der Leser spickte in die private Schreibtischlade des Autors hinein. Ähnlich, wie man sich mitunter in Cafés nicht des Mithören-müssens der Gespräche am Nachbartisch erwehren kann – und sich schließlich über sie amüsiert.

Ein Tagebuch muß nicht die minutiöse Aufzeichnung des Tages enthalten, sollte es auch nicht. Notizen wie "Aufgestanden um acht Uhr; weiter am Roman A, Briefe an B und C geschrieben, mit D einen Kaffee eingenommen usw." interessieren allenfalls einen kriminalistischen Biographen; derlei Notizen gehen in ihrem Gehalt nicht über den eines Taschenkalenders hinaus. Bestehen die Notate hingegen aus Reflexionen, Nachdenken über das Eigene oder Adnoten zur Lektüre, zur Umwelt, so kann der "Wert" des Tagebuchs unschätzbar werden. Auch kann der Interpret wichtige Anregungen erhalten. Man denke etwa an Thomas Manns Notat, als das Dritte Reich noch jung war: "Die deutschen Vorgänge hören nicht auf, mich zu beschäftigen (…) Die Revolte gegen das Jüdische hätte gewissermaßen mein Verständnis ... wenn das Deutschtum nicht so dumm wäre, meinen Typus mit in denselben Topf zu werfen und mich mit auszutreiben." – Diese Zeilen besagen mehr über Manns Gegnerschaft zum Nationalsozialismus resultierend aus seiner Egozentrik als umfangreiche Abhandlungen über Manns Rundfunkpropaganda.

In dem Film "American Beauty" äußert die Frau des Protagonisten den Wunsch, sie wolle ihrem Geliebten "in den Hirnwindungen herumpulen". Weniger alkoholgeschwängert formuliert, ist dies der Wunsch, Einblick in das tatsächliche Denken des anderen nehmen zu wollen. So manches Tagebuch kann diesen Wunsch befriedigen.

Auch ein Briefwechsel kann die Funktion des Tagebuchs erfüllen. Als Beispiel seien Gottfried Benns Briefe an den Bremer Handelskaufmann Friedrich Wilhelm Oelze genannt, dem sich Benn in seinen knapp 700 Briefen vorbehaltlos anvertraute. Vielleicht eine Art "verhindertes Tagebuch", wie Richard M. Meyer es von den Briefen der Madame de Sévigne sagte.

Das Tagebuch als eigenständige Literaturgattung ist eine jüngere Erscheinung. Es waren zunächst überwiegend Reiseaufzeichnungen, die auch als Tagebuch publiziert wurden, wie die "Geistliche Pilgerfahrt" (1422) von Felix Fabri oder Albrecht Dürers "Niederländische Reise" (1510). Von vielen Literaturhistorikern werden die Diarien des Baseler Buchdruckers Felix Platter aus dem 16. Jahrhundert hervorgehoben, zumal er auch seelische Zustände beschrieb.

Wichtig für die Tagebuchentwicklung war das Aufkommen des Protestantismus; wie der Literaturwissenschaftler Albert Gräser vermutet, wohl wegen des Fehlens der Beichte. So bemerkte der Benediktiner Michael Enk 1829, daß "das Tagebuch ein eigentlicher Sündenbock ist, mittels dessen sie sich jeden Abend mit ihren Schwächen, Fehlern und Torheiten auf bequeme Weise abfinden; ein weiches Kissen der Selbsttäuschung, in welche sie sich jeden Abend ohne viel Mühe aufs neue hineinschreiben, um im Schlafen keine bösen Träume zu haben".

Im 18. Jahrhundert wurden vermehrt Journale publiziert. Da waren Philosophen wie Johann Georg Hamann ("Tagebuch eines Christen", 1758 – mit dem bemerkenswerten Motto: "Gott ein Schriftsteller") oder Johann Gottfried Herder, der das "Journal meiner Reise" (1869) publizierte, indem er eine entscheidende Wende seiner Gedankenwelt festhielt. Erwähnt werden sollten auch die Aufzeichnungen Lichtenbergs, die – neben ihrem Inhalt freilich – deshalb bemerkenswert sind, weil sie eines der ersten zu Lebzeiten publizierten Tagebücher waren, und die Lavaters mit dem programmatischen Titel "Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner selbst". Auch Goethe war ein fleißiger Tagebuchschreiber, dem zudem das Verdienst zukommt, daß er die Form des fiktiven Tagebuches als Stilmittel in die Literatur einführte (Ottiliens Tagebuch in den "Wahlverwandschaften"). Zu erinnern ist auch an Friedrich Hebbel, der ein Vierteljahrhundert lang sein Tagebuch führte. Manche halten seine Diarien für sein Hauptwerk, wie der bereits zitierte Meyer, der sagte, daß im Grunde Hebbels Werke nichts als Kommentare zu seinen Tagebüchern seien.

Bedeutende Tagebuchschreiber waren auch die Brüder Goncourt, die sich hauptsächlich um die Aufzeichnung der "Mitwelt" als Chronisten kümmerten. Da ist Léon Bloy, ein fanatischer Bekenner und Bekehrer, antibürgerlich durch und durch. Da ist Søren Kierkegaard, der seine Tagebücher so angelegt hatte, daß "niemand in meinen Papieren eine einzige Aufklärung über das, was eigentlich mein Leben ausgefüllt hat, die Schrift im Inneren findet, die alles erklärt". Da ist André Gide, der sein Schreiben eine "monomanische Introspection" nannte: "Ich hatte, um meiner inneren Wirrnis Herr zu werden, die Gewohnheit angenommen, ein Tagebuch zu führen." Und da ist Julien Green, der fast das gesamte Jahrhundert diaristisch begleitete.

Ernst Jünger schrieb einmal, daß der Erfolg des Tagebuchs auf dem geglückten Selbstgespräch beruhe. Glücklich und dankbar ist der Leser, der daran teilhaben darf.

 

Tobias Wimbauer, 24, studiert Germanistik und Philosophie in Freiburg. 1999 veröffentlichte er das "Personenregister der Tagebücher Ernst Jüngers".


 
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