© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Von organisiertem Widerstand oft meilenweit entfernt
Fundus für den historisch interessierten Laien: Das Lexikon der DDR-Opposition
Ekkehard Schultz

Mit dem Lexikon "Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur" liegt eine grundlegende Arbeit zu einem Themenkomplex vor, der immer noch ein wenig im Schatten der inzwischen gut aufgearbeiteten Herrschafts- und Institutionengeschichte der DDR steht. Auch in der Hochphase des Interesses an der Thematik, unmittelbar nach den Umbrüchen von 1989, wurde der Widerstand in der DDR häufig nur als Anhang zu einem allgemeinen Abriß der politischen Ereignisse dieser Zeit behandelt. Ein anschauliches Beispiel für den zögerlichen Umgang mit der Problematik spiegelte sich auch in der Arbeit der Enquete-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur wider, die sich in ihrem Abschlußbericht über den westdeutschen Forschungsstand der sechziger Jahre kaum hinausbewegte.

Aufgabe des Lexikons ist es, eine Bilanz der Erkenntnisse von mehr als zwei Jahrzehnten west- und gesamtdeutscher DDR-Forschung auf dem Gebiet des Widerstandes gegen die SED-Herrschaft zu präsentieren. Hatten bislang erschienene Publikationen zu diesem Thema häufig den Nachteil, entweder die Formen des Widerstandes auf allgemeiner historischer Ebene abzuhandeln oder sich ausschließlich lokalen Bereichen zu widmen, versucht das vorliegende Werk, mit einer Gesamtschau dem äußerst differenten Charakter der DDR-Opposition Rechnung zu tragen. Die dabei herausgearbeitete Vielfalt der zahlreichen Gruppen, Kreise und Zeitungen dürfte auch den mit der Materie vertrauteteren Nutzer überraschen. Die lexikalische Form ermöglicht im Unterschied zu klassischen Monographien einen schnellen Zugriff auf den Forschungsgegenstand. Daneben bieten die Kurzaufsätze zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion einen schnellen Überblick. Mit diesem Aufbau wurde auch der rasch ermüdende starre zeitliche Abriß der bisherigen Darstellungen vermieden.

Eine Schwierigkeit bei der Erstellung des Lexikons bestand allerdings darin, daß die Begriffe "Widerstand" und "Opposition" in der DDR in der heutigen Forschung unterschiedlich definiert werden. Ein Grund dafür liegt in dem Fehlen einer breiten bürgerlichen Widerstandskultur. Viele Formen von oppositionellen Verhaltens sind daher auch nur aus den spezifischen historischen Bedingungen Mitteldeutschlands ableitbar, die – wiederum für sich genommen –, sich selbst mit anderen Ostblockstaaten, wie Polen oder der Tschechoslowakei nur schwer vergleichen lassen. Eine weitere Besonderheit ist zudem, daß bis zum Zusammenbruch des SED-Systems die Bildung oppositioneller Gruppen durch den gravierenden Aderlaß erheblich erschwert war, den solche Organisationen stets durch Flucht oder Ausreise verzeichnen mußten.

Tatsächlich fühlte sich der SED-Staat von jeder Regung "andersartigen" Verhaltens massiv bedroht. Dies ist primär darauf zurückzuführen, daß der starre Staatsapparat hinter jeder abweichenden Meinung langfristige Gefahren für den Bestand des Systems witterte. Indem er auch ein harmloses Abweichen von der gewünschten Parteilinie vielfach mit Verfolgung und Sanktionen belegte, schuf er sich praktisch selbst ein konstantes "widerständiges" Potential. Real betrachtet stellten die Oppositionskreise der siebziger und achtziger Jahre zunächst kleine, unbedeutende Gruppen dar, die oftmals von Vorstellungen des "reformierten" Sozialismus oder eines "dritten Weges" ausgingen. Repression und Verfolgung trugen zu einer förmlichen Mythenbildung bei, die dann schließlich dazu führte, daß sich weitere Personen diesen Kreisen anschlossen, die dann oft ein vollkommen anderes oppositionelles Verständnis hatten.

Es ist den Autoren des Lexikons anzurechnen, daß sie sich nicht auf das geringe Potential klassischen Widerstands beschränkten, sondern auf das breite Spektrums von "widerständischem Verhalten" zurückgreifen, das von aktiven Oppositionshandlungen, wie am 17. Juni über Flucht, die Verweigerung von "Ehrendiensten" und Mitgliedschaften in Parteien und Massenorganisationen über innerpolitische SED-Gegnerschaft, "Rechtsextremismus", "Zeugen Jehovas" bis zu "Homosexuellen" reicht. Allerdings legt diese Stärke zugleich ein Problem lexikalischer Aufbereitung offen. So lassen sich aus der Fülle der aufgelisteten Namen und Begriffe nur wenige Rückschlüsse auf deren tatsächliche Bedeutung innerhalb der DDR-Opposition ziehen, was eine sinnvolle Abgrenzung und Klassifikation erschwert. Dabei unterschieden sich beispielsweise die Formen politischen und gesellschaftlichen Widerstandes in der Zeit der Kalten Krieges erheblich von denen, die sich in der Zeit nach dem Mauerbau in einer faktisch einzementierten Gesellschaft entwickelten. Eine Antragstellung auf ständige Ausreise aus der DDR läßt sich nur schwer mit einer bis 1961 möglichen Flucht über Westberlin vergleichen, obwohl sich beides als Massenerscheinung langfristig verheerend auf das DDR-System auswirkte.

Zudem prägten sich durch Ereignisse wie die Schauprozesse der frühen Fünfziger und die Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni die Formen des Widerstandes über Jahrzehnte nachhaltig. Die Ohnmacht gegenüber einer als übermächtig empfundenen Besatzungsmacht, die noch durch die Ereignisse des 12./13. August 1961 gesteigert wurde, behinderte für lange Zeit die Bildung jeglicher Opposition.

Generell darf bei der Beschäftigung mit dem DDR-Widerstand auch die besondere politische und geographische Lage des SED-Regimes nicht vergessen werden. Leider wird sie hier nur grob skizziert und der gesamtdeutsche Kontext weitestgehend vernachlässigt. Viele Formen von Opposition entstanden unter der Ägide des Dualismus der ehemaligen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. So sind die klassischen Formen des Widerstands in der Gründungsphase der DDR ohne die zumindest logistische Unterstützung des Westens schwer vorstellbar. Allein die Möglichkeit, gegen die kommunistische Herrschaft gerichtete Schriften beziehen und Propagandamaterial einführen zu können, erleichterte oppositionellen Kräften die Tätigkeit. Dabei ist die moralische Hilfe zweifellos höher einzuschätzen als die tatsächlich von Bonn gewährte finanzielle Unterstützung, die in der Verfolgung von Oppositionellen durch das SED-Regime gern als Motiv für "verbrecherische Handlungen" propagandistisch ausgeschlachtet wurde. Um diese Bedeutung herauszuheben, hätte es einer breiteren Darstellung solcher Widerstandsorganisationen, wie der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) bedurft, deren Tätigkeit sich auf die Phase des Kalten Krieges konzentrierte. Auch die Kooperation solcher Gruppen mit westlichen Geheimdiensten hätte aufgrund des in den letzten Jahren enorm verbesserten Forschungsstandes mehr Berücksichtigung verdient.

Ein besonderes Plus stellen hingegen die vielen, sorgsam recherchierten Biographien von Oppositionellen dar, die in dieser Form wohl erstmalig aufgearbeitet wurden. Nicht zuletzt deswegen bleibt der Eindruck eines soliden Nachschlagewerks, daß vor allem durch die Materialfülle auch für den historisch interessierten Laien sehr viel zu bieten hat.

 

Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Hrsg. von Hans-Joachim Veen, Propyläen Verlag, Berlin- München 2000, 455 S., Abb., 78 Mark


 
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