© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Familienchronik einer Hilfstruppe
Der Parteienforscher Joachim Raschke hat sich über die Zukunft der Grünen Gedanken gemacht
Rolf Stolz

Joachim Raschke, Parteienforscher und Autor des Standardwerks "Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind" (Köln 1993), hat ein wichtiges neues Buch über die Grünen geschrieben. Wichtig, weil es beschreibt, wie die zentralen Akteure, Gruppierungen und Strömungen in dieser Partei auf die neuen Gegebenheiten der Regierungseinbindung reagiert haben und wie das grüne Projekt immer mehr zum Anhängsel und zur Hilfstruppe einer Regierung verkommt, die nach der Stabilisierung der SPD durch die Troika Schröder/Struck/Müntefering noch ausgeprägter von dem alten rosaroten Machbarkeitswahn und Wachstumsfetischismus beherrscht wird als zu Zeiten der unverbrüchlichen Männerfreundschaft zwischen Onkel Willis drei Enkelchen Gerhard, Oskar und Rudolf.

Wichtig ist dieses Buch, weil es sehr nüchtern die strategischen Anforderungen an eine realitätstüchtige Politik beschreibt, weil es unvoreingenommen die Erfolgs- und Zukunftsaussichten diskutiert, die die real existierenden Grünen angesichts ihrer offenkundigen strategisch-programmatischen Inkompetenz und Impotenz haben. Man erwarte aber nicht, daß Raschke, der in den zentralen Fragen die Voraussetzungen und Vorurteile der Grünen und des gesamten etablierten bundesdeutschen Politikbetriebs teilt, all das thematisiert, was Fischer & Co. kategorisch verdrängen und ausblenden – etwa die durch die Blockbildungs- und Großreichsbestrebungen des EU-Europa rasant verstärkte Renationalisierung oder etwa die schleichende Orientalisierung und Islamisierung Europas, die imperialen Träumen potentieller Großmächte am Rande Europas reichliche Nahrung gibt.

Raschke schreibt wie ein Familienchronist über die eigene Familie, wie ein Talbewohner über sein Dorf – exakt, detailreich, informativ. Unterrichtung über Außerfamiliäres und Unbekanntes, über das Geschehen jenseits des Passes, einen weit schweifenden Blick vom Gipfel in die Runde, gar die Darstellung ganzer Länder und ferner Kontinente – all das sollte man an anderer Stelle suchen.

Der Autor konstatiert zu Recht, daß eine Partei, die konsequent die Ökologie als "die Grundfrage des 21. Jahrhunderts" (E. U. v. Weizsäcker) thematisiert, potentiell ein Viertel bis ein Drittel des deutschen Volkes auf ihrer Seite hat. Genau dies aber leisten die Grünen nicht. Als zentrale Ursache für die mangelnde Regierungsfähigkeit der Grünen, für ihre Unfähigkeit zu Strategiebildung und Führung sieht Raschke ihre Identitätsschwäche, ihre Selbstblockaden und ihre "Mißtrauenskultur": "Das Grundproblem der Grünen sind sie selbst. Wenn sie scheitern, scheitern sie nicht an den anderen." Ihre Probleme analysiert Raschke als Erbe jener "Neuen Linken", die über die Verbindung mit den neuen sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre aus den Wirren und Wahnwelten teils gewaltfixierten, teils ideologiefixierten Sektierertums zurückfand in die politische Wirklichkeit, um innerhalb weniger Jahre die Grünen machtpolitisch zu erobern und entsprechend den eigenen Denk- und Handlungsmustern umzuprägen. Diese "Verlinkung" (Roland Vogt), diese massenhafte Infizierung mit Feindseligkeit, Haß und Mißtrauen marginalisierte oder vertrieb diejenigen, die wie Petra Kelly, Holger Strohm oder Herbert Gruhl für das Spezifikum und die politische Essenz der Grünen standen – für die Anerkennung des Primats der Ökologie, für die letztlich urchristlich fundierte radikale Gewaltlosigkeit, für eine basisdemokratisch verstandene Vielfalt der Denkansätze, für eine prinzipielle Unabhängigkeit gegenüber den Weltmächten, gegenüber den wirtschaftlichen und politischen Macht-habern im eigenen Land.

Während Traditionalisten wie Trampert, Ditfurth, Ebermann an ihren Überzeugungen verbissen und im Grunde konservativ festhielten und, als sie sich machtpolitisch nicht durchsetzen konnten, die Partei verließen, blieben die Ex-Linken wie Fischer und Trittin, Vollmer und Volmer, Beer und Künast zurück. Sie, die längst ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht hatten und die eigene Karriere durchaus als gutbürgerlichen Aufstieg vom Parvenu in Richtung Staatsmann/Staatsfrau betrieben, behielten in ihrem Grundverständnis von Politik die antidemokratischen, nur auf Macht und Gewalt setzenden Orientierungen ihres Avantgarde-Aktivistentums bei – und ebenso jene dubiose und diffuse Mischung aus Vernichtungsangst und Vernichtungsbereitschaft, die für viele minoritäre Untergrundbewegungen charakteristisch ist. Durch diesen "Politikdarwinismus" wachsen nach oben buckelnde, nach unten tretende und im übrigen politisch kastrierte Gefolgsleute heran und breitet sich, wie Raschke mit Max Weber feststellt, eine "Entseelung" und geistige Proletarisierung der "Gefolgschaft" aus.

Raschke weist nach, daß die Grünen einerseits in einer geradezu idiotischen Weise Anhänger und Wähler mit scheinradikalen Forderungen (wie dem Magdeburger Parteitagsbeschluß "Benzin-preis auf 5 DM") verprellen (Abwanderung von 400.000 Grünen-Wählern zur SPD im Herbst 1998), andererseits angesichts kurzatmiger Übertaktiererei jedes konsequente Verfolgen langfristiger Programmziele vermissen lassen, eine eklatante "Konfliktschwäche" zeigen und die Interessen der Partei denen der Strömungen unterordnen.

Raschke, der mit einer interessanten und argumentreichen Analyse noch einmal die Konflikte zwischen der Lafontaine- und der Schröder-SPD, die desaströse erste Phase der Schröder-Regierung zwischen Herbst 1998 und Frühwinter 1999 und die dann folgende Reanimation und Reorganisation darstellt, kontrastiert diese vorläufige Erfolgsgeschichte mit einem grünen Regieren "ohne Zentrum und Strategie". Deutlich wird dies daran, daß der "umweltpolitische Laie" Trittin, der gerne Innenminister geworden wäre, von Fischer und Schröder im Umweltministerium plaziert wurde und dort eher als Ankündigungs- und Prospektminister hervorgetreten ist. Er wurde zur Symbolfigur für ein ebenso zielloses wie phrasenreiches Herumeiern im Sinne des "Sowohl-als-auch", des konsequenten "Jein, aber . . .", das nicht im mindesten Anforderungen an eine inhaltlich fundierte Umweltpolitik erfüllt.

Achim Hurrelmann, der zu dem Raschke-Buch unter anderem das umfangreiche Kapitel "Politikfelder und Profilierung" beigesteuert hat, nennt in diesem Zusammenhang als unbeantwortete, ja von den Grünen inzwischen kaum noch gestellte Fragen: "Wieviel Verzicht, welche Einschränkungen des Lebensstandards in westlichen Gesellschaften müssen im Interesse einer global nachhaltigen Entwicklung hingenommen werden? Kommt eine nachhaltige Umweltpolitik ohne Wachstums- und Kapitalismuskritik aus? Kann es dauerhaft bei einer Umweltpolitik bleiben, die – wie etwa das rot-grüne Klimaschutzprogramm – (fast) niemandem weh tut?"

Im Abschnitt "Personifizierungen: Fischer, Ströbele, Trittin" gelingen Raschke exzellente Porträts, die am Rollenträger nicht allein dessen Rolle für die Partei aufzeigen, sondern auch thematisieren, wie sich Partei- und Persönlichkeitsdefizite wechselseitig bedingen. Deutlich wird dies nicht zuletzt an Ströbele, dem Hauptverantwortlichen für die Weigerung der Grünen, Anfang 1990 die den meisten Grünen unver-ständliche bis unwillkommene Einheit Deutschlands wenigstens als unver-meidliche Realität zu akzeptieren. Die von Ströbele verantwortete Kampagne "Die anderen reden von der Einheit. Wir reden vom Wetter" führte 1990 zur grandiosen Niederlage bei der Bundestagswahl, Seite an Seite mit Oskar Lafontaine, diesem Bruder im Ungeist – in den pathologisch antinationalen Ressentiments, in der perfiden Demagogie, im garantiert selbstkritikfreien Größenwahn.

Zuzustimmen ist Raschke in seiner kritischen Bewertung Joschka Fischers, dem er Führer-Gefolgschafts-Denken und eine für die Partei destruktive Herrschaft vorhält, die auf geistig-programmatische Führung fast völlig verzichtet, aber um so exzessiver Gebrauch macht von autoritär-diktatorischer Manipulation und mafiosen Netzwerken aus Abhängigkeit und Servilität. Was Raschke zutreffend der CDU Kohls vorhält – "umfassende Patronage, Einschüchterung, Finanzmanipulation, Rechtsbruch" –, könnten eines Tages auch die Leitbegriffe für eine Analyse der Ära Fischer sein. Äußerst gelungen ist das Psychogramm Jürgen Trittins, dieses "Mannes ohne Eigenschaften", dieses scheinradikalen Karrieristen, der "konspirativ, kungelnd, Finten legend, undurchsichtig" für Fischer und Schröder die Idealbesetzung ist, um die Grünen bei der Stange und im Geschirr zu halten und um zugleich – siehe Trittins "Skinhead"-Ausfälle –, ohne sich dabei selbst die Finger schmutzig zu machen, mit stalinistisch-faschistoiden Methoden jeden für vogelfrei zu erklären, für den Deutschland mehr ist als ein Spucknapf und ein im Regierungsbesitz befindliches Verwertungsobjekt.

Die Grünen der frühen achtziger Jahre waren eine Partei, die aus vielfältigen Bewegungen hervorgegangen war und sich auf diese abstützen konnte – auch nach Wahlniederlagen wie 1981. Die heutigen Grünen sind eine Partei, die sich von den sozialen Bewegungen isoliert, zu ihnen auf Distanz geht oder sogar in Konfrontationen gerät. Völlig zu Recht sieht Raschke die Grünen daher bei einer Niederlage in den Bundestagswahlen 2002 als "hochgefährdet": "Seit dem 27. September 1998 sind die Grünen Regierungspartei oder sie sind nichts." Jenes "ideelle Zentrum", das der Autor als unerläßlich begreift, getragen von einem inhaltlich ausgewiesenen "normativen Zentrismus", ist nicht in Sicht. All die grünen Amtsinhaber, die aus Mangel an Ideen und Charakter weiterhin ihr privates Heil in Intrigantentum, politischem Schwindel und Machtmißbrauch suchen, werden es schon zu verhindern wissen. Auch wenn die Partei darüber zugrunde geht.

 

Joachim Raschke: Die Zukunft der Grünen. So kann man nicht regieren. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2001, 470 Seiten, 49,80 Mark

 

Rolf Stolz ist Publizist und Buchautor ("Der deutsche Komplex"). 1980 gehörte er zu den Mitbegründern der Grünen.


 
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