© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Der Zwang zur Zuwanderung
Einwanderung: Streit um Asylrecht und Familiennachzug / CDU-Politiker fordert 800.000 Einwanderer / Wirtschaft denkt an Arbeitskräfte
Philip Plickert

Bei einer Konferenz in Brüssel haben die Innen- und Justizminister der Europäischen Union über ein koordiniertes Vorgehen gegen illegale Einwanderung beraten. Eine engere Zusammenarbeit mit den Polizeikräften von Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien und Serbien ist geplant. Über den Balkan werden über die Hälfte aller illegalen Einwanderer in die EU eingeschleust, nach Schätzungen jährlich eine halbe Millionen Menschen besonders aus Asien. Nach einem Bericht der EU-Kommission halten sich derzeit allein 200.000 Chinesen im ehemaligen Jugoslawien auf, die auf eine Gelegenheit zur illegalen Einreise in die EU warten. Durch härtere Strafen möchten die EU-Regierungen die Schleuserkriminalität eindämmen.

Während die EU-Minister über eine Abwehr der unkontrollierten Masseneinwanderung diskutieren, bekräftigten die Grünen ihre Forderung nach einer Rückkehr zum alten Asyl-Paragraphen. Im Jahr 1992 hatte der Ansturm von Asylbewerbern nach Deutschland mit fast 440.000 Personen einen historischen Höchststand erreicht, weshalb sich CDU/CSU, SPD und FDP 1993 auf eine Neufassung von Artikel 16 Grundgesetz mit der sogenannten Drittstaatenregelung einigten. Danach sank die Zahl der Asylanten bis auf knapp 80.000 im vergangenen Jahr, wobei immer noch ein hoher Mißbrauch stattfindet. Etwa 95 Prozent der Anträge werden regelmäßig als unbegründet abgewiesen. Väterlich tadelte Bundeskanzler Schröder (SPD) die Delegierten des Grünen-Parteitags. Diese seien offenbar "ausgeflippt". Der designierte FDP-Vorsitzende Westerwelle nannte den Beschluß gefährlich, da er "Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen" leiten werde. Am 25. März entscheidet sich bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg, ob den Republikanern erneut der Sprung ins Parlament gelingen wird.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die rot-grüne Regierungskoalition unterdessen das Gesetz "Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz" gegen den Widerstand von CDU und CSU durchgesetzt. Abschiebeschutz soll in Zukunft auch dann gewährt werden, wenn keine staatliche Verfolgung vorliegt, aber den Asylantragstellern im Heimatland Nachteile aufgrund ihres Geschlechts oder Gefahr durch nichtstaatliche Akteure drohen. Mit dieser Neufassung, für die es keiner Grundgesetzänderung bedarf, möchte die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Kerstin Müller, "Schutzlücken" schließen. Der CSU-Innenexperte Wolfgang Zeitlmann erklärte zu dem Gesetz, es werde massenhaft unkontrollierte Zuwanderung und weiter steigende Asybewerberzahlen nach sich ziehen.

Ein weiterer Streitpunkt ist die von der EU-Kommission geplante Neuregelung des Familiennachzugs, der nach den Vorstellungen der EU drastisch ausgeweitet werden soll. Zukünftig sollen auch Großeltern, volljährige Kinder, unverheiratete Lebensgefährten und sogar gleichgeschlechtliche Partner die Möglichkeit zur Einreise erhalten – ohne den Nachweis eines Einkommens, einer Wohnung oder einer Krankenversicherung. Zeitlmann sagte dazu: "Wird diese europäische Richtlinie tatsächlich umgesetzt, ist in Deutschland mit einem Familiennachzug von etwa 300.000 Personen im Jahr zu rechnen." Zwar möchte Innenminister Schily das Gesetz noch verhindern, doch er ist in der Koalition isoliert. In den Genuß der Neuregelung zur Familienzusammenführung kämen Wirtschaftsflüchtlinge und sogenannte anerkannte Flüchtlinge, nicht aber Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge.

Der Gestaltungsspielraum der Nationalstaaten bei der Einwanderungs- und Asylpraxis wird zunehmend durch die EU-Kommission eingeschränkt. Diese plant, den rund 13 Millionen legal in den Mitgliedsländern lebenden Ausländern künftig dieselbe Freizügigkeit zu gewähren wie EU-Bürgern. Der Gesetzentwurf muß von den nationalen Regierungen noch einstimmig verabschiedet werden, wobei die EU-Kommission zuversichtlich ist, da die Staats- und Regierungschefs sich zu einer entsprechenden Regelung "feierlich verpflichtet" hätten. Der innenpolitische Sprecher der CDU im Bundestag Marschewski wirft der EU und der rot-grünen Bundesregierung vor, sie mache damit alle Bemühungen um eine gezielte Zuzugssteuerung und Begrenzung unmöglich.

Vor allem die Union, aber inzwischen auch die SPD regen an, die Zuwanderung müsse sich verstärkt nach den Bedürfnissen der Wirtschaft richten. Die Beschäftigungs- und Qualifizierungschancen der Einwanderer sollten berücksichtigt werden. Anfang März stellte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ein Thesenpapier zur Einwanderung vor. Der demographische Wandel lasse die Gesellschaft vergreisen, weshalb eine systematische Zuwanderungspolitik gefordert wird. Um das heutige Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern aufrechterhalten zu können, benötige Deutschland eine jährliche Nettozuwanderung von 350.000 Personen. Trotz anhaltender Arbeitslosigkeit von fast vier Millionen Menschen glaubt der BDI, 1,3 Millionen offene Stellen nicht besetzen zu können. Allein im IT-Bereich gebe es bis 2003 einen Bedarf von 350.000 hochqualifizierten Arbeitskräften. Deutschland stehe im Wettbewerb um die besten Köpfe.

Die Hoffnung, durch Zuwanderer die Probleme des Arbeitsmarktes zu lösen, wurde in der Vergangenheit oft enttäuscht. In einem Diskussionspapier vom Juni 2000 schreibt der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach: "Zu viele Zuwanderer sind nicht willens und/oder nicht in der Lage, hier ihren Lebensunterhalt dauerhaft durch Erwerbstätigkeit zu finanzieren und sich in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren." Bosbach argumentiert, von den 1985 in Deutschland lebenden rund vier Millionen Ausländern seien über zwei Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Bis heute hat sich die Zahl der Ausländern fast verdoppelt (7,32 Millionen), doch weniger als zwei Millionen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Der Anteil der Ausländer unter den Sozialhilfebeziehern liegt mit 23 Prozent extrem hoch.

Bei der vom BDI angestrebten jährlichen Zuwanderung von 350.000 Personen würde der Ausländeranteil bis zum Jahr 2050 auf etwa 30 Prozent steigen. Der BDI sieht dabei auch erhebliche soziale Spannungen entstehen und fordert, die Zuwanderungspolitik durch verstärkte Integrationsmaßnahmen zu begleiten. Zusätzlich mahnt der BDI eine Bildungsoffensive und auch ein Umdenken in der Familienpolitik an.

Der demographische Wandel basiert im wesentlichen auf dem Rückgang der Geburtenzahl und einer gestiegenen Lebenserwartung. In Westdeutschland stieg der Anteil der Familien ohne Kinder von unter 20 Prozent (1950) auf 42 Prozent (1999), eine ähnliche Entwicklung gab es in der ehemaligen DDR. Mit einer Geburtenrate von 1,25 pro Frau im gebärfähigen Alter ist Deutschland in der EU nach Spanien und Italien das kinderärmste Land. Dazu kommt die bedrückend hohe Zahl von Abtreibungen: Den 767.000 Geburten standen 1999 offiziell 130.000 Abtreibungen gegenüber. Die tatsächliche Zahl übersteigt die amtliche Statistik bei weitem und wird auf bis zu 300.000 geschätzt.

Diese Fakten finden erstaunlich wenig Beachtung. Um der Vergreisung zu entgehen, kennen deutsche Politiker meist nur eine Wunderwaffe: Zuwanderung. Der frühere Postminister Schwarz-Schilling, Mitglied der CDU-Kommission für "Zuwanderung und Integration", rät seiner Partei, ihre Abwehrhaltung gegen Masseneinwanderung aufzugeben und für eine "freundliche Einwanderungsatmosphäre" zu sorgen. Er plädiert für eine jährliche Zuwanderung in der Größenordnung von 600.000 bis 800.000 Ausländern. Bis Anfang Mai will die CDU-Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller ein Papier vorlegen, das in fünf Regionalkonferenzen diskutiert und auf einem kleinen Parteitag am 7. Juni beschlossen werden soll. Die von der Bundesregierung eingesetzte Einwanderungskommission unter dem Vorsitz der CDU-Politikerin Süssmuth wird ihren Abschlußbericht vermutlich am 4. Juli vorlegen. Rot-Grün hofft, ein Einwanderungsgesetz noch vor den nächsten Wahlen über die Bühne zu bringen, denn die Ausländerproblematik soll auf keinen Fall im Wahlkampf diskutiert werden.


 
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