© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/01 16. März 2001

 
Pankraz,
Friedrich Hebbel und die Kränkung der Würmer

Der Mensch, das gekränkte Wesen. Nach der "kopernikanischen Kränkung" und der "darwinistischen Kränkung" widerfährt ihm nun in diesen Tagen die "genetische Kränkung". Wir haben, so tönt es voller Enttäuschung aus vielen Richtungen, kaum mehr Gene in unseren Zellen als ein simpler Fadenwurm von einigen Millimetern Länge. Was soll man denn da von unserer Würde, der "Menschenwürde", halten? Gibt es die überhaupt? Wo doch alles "in den Genen" liegt. Sind wir vielleicht allesamt lediglich Fadenwürmer, mit einigen unwesentlichen Ausbuchtungen?

Was auffällt, ist die sich offenbar immer weiter steigernde Empfindlichkeit gegenüber Kränkungen. Bei der kopernikanischen Kränkung vor fünfhundert Jahren war es noch darum gegangen, daß der Mensch regelrecht aus Gottes Hand fiel. Eben hatte er sich noch als Mittelpunkt des Weltalls gefühlt, auf den hin die Schöpfung ausgelegt war, als "Krone der Schöpfung" – und mußte plötzlich realisieren, daß die Erde mitsamt ihrem Personal ein winziges Staubkorn im Weltall war, ein Staubfussel an völlig unauffälliger Stelle irgendwo in der Galaxis. Der Schock war groß. Aber "gekränkt" fühlte sich damals, nach allem, was wir wissen, eigentlich kaum jemand.

Bei der darwinistischen Kränkung vor hundertfünfzig Jahren war der Kränkungsgrad schon höher. Daß der Mensch "vom Affen abstamme", nicht vom Schöpfer direkt gebildet, sondern Resultat einer langen biologischen Evolution, kränkte vor allem Pfaffen, alte Jungfern und Rohrstockpädagogen. Revolutionäre, Hundezüchter und aufgeklärte Laienprediger hingegen triumphierten, fühlten sich jetzt erst "wahrhaft in der Schöpfung geborgen" (Ernst Haeckel), riefen auf zu Eugenik und zur planvollen Verbesserung der natürlichen Erbanlagen.

Heute nun, bei der jüngsten, der genetischen Kränkung, ist die Betroffenheit allgemein und reicht tief. Faktisch jedermann hatte damit gerechnet, daß sich bei den Genen, im "Buch des Lebens" (Bill Clinton), die ungeheure Überlegenheit des Menschen über jede andere Kreatur erweisen werde. Gene, so wurde von den Medien suggeriert, sind wie Doktortitel, wie Weisheits-Zertifikate, und so wurde mit hunderttausenden, vielleicht sogar Millionen von speziell für die Gattung Mensch reservierten Genen gerechnet. Und nun dieses! Zahl der Gene beim Fadenwurm: 20.000. Zahl der Gene beim Menschen: 30.000.

Zusätzlich fatal erscheint, daß niemand da ist, an dem man sich für die Kränkung rächen kann. Kopernikus ließ sich seinerzeit noch zum Schweigen bringen, gegen Darwin, Haeckel & Co. ließ sich immerhin noch süffisant und von oben herab polemisieren, aber wen kann man heute für die geringe Zahl der Menschengene verantwortlich machen? Craig Venter und die übrigen Sequenzierer? Die sind doch selber traurig, denn sie wollten mit den Genen bekanntlich gewaltige Geschäfte machen, wollten sie patentieren lassen und an die Pharmakonzerne verscherbeln. Die genetische Kränkung hat buchstäblich keinen identifizierbaren Absender. Es ist die Natur selber, die uns kränkt.

Aber es scheint ausnahmsweise einmal eine heilsame Kränkung zu sein, die man sich ruhig gefallen lassen darf. Niemand muß sich ja der vielen gemeinsamen Gene wegen als Fadenwurm fühlen, denn diese Gene sind zum größten Teil nichts weiter als vor langer Zeit erteilte Ausweise von Lebendigkeit, die also zeigen, daß sowohl der Fadenwurm als auch der Mensch zu dem großen, unendlich komplizierten und rätselvollen Phänomen gehören, das Leben genannt wird. Angesichts der Tatsache von Leben überhaupt erscheint jeder Streit um Qualität und Rang von Lebendigkeit wesenlos.

Gene, die als tatsächlich Qualität und Rang stiftend erkannt werden, enthüllen unter den Augen der Forscher fast täglich geradezu dämonische Eigenschaften. Kein Gen ist offenbar mit sich selber identisch, zumindest in seinen Fähigkeiten nicht. Ein und dasselbe Gen bewirkt einmal dies, einmal das. Nicht auf die Zahl der Gene, die ein Lebewesen in sich trägt, kommt es an, sondern auf die proteischen Kräfte und Wirkmöglichkeiten, über die es verfügt. Nie und nimmer wird sich die Dignität des Menschen aus der Anzahl seiner Gene berechnen lassen.

Und was für das Gen im einzelnen zutrifft, gilt für das Genom im Ganzen. Der Mensch ist nicht der Sklave seines Genoms. Es besteht nicht der geringste Anlaß zu apokalyptischer Panikmache, derart etwa, daß es über kurz oder lang in die Hand der Forschung oder des Staates oder irgendwelcher Diktatoren gegeben sei, "Menschen nach Maß" zuzuschneiden, die über keine Autonomie und Würde mehr verfügten und alles mit sich machen ließen.

Was – hoffentlich – möglich sein wird, ist die erfolgreichere Behandlung von qualvollen, schmachvollen, die Autonomie beeinträchtigenden Krankheiten, weiter ein gewisses Maß von äußerer Optimierung, körperlicher und geistiger Schönheit, Erwerb von guten, nützlichen Talenten usw. Auch solche Optimierung wird freilich immer relativ bleiben. Was heute als optimal erscheint, kann schon morgen eine lästige Behinderung sein. Herausforderungen, Gefahren und Vorlieben wechseln, aus Schönheit wird Häßlichkeit, aus einem nützlichen Talent eine ärgerliche Ungeschicklichkeit. Verbesserung der Menschheit, ob sozialpolitisch oder genetisch, bleibt unvollkommen und ein Risiko.

Mit der Autonomie des Menschen, seiner Würde und Freiheit, hat das nur am Rande zu tun. "Die Natur kränkt nicht", schrieb Friedrich Hebbel in sein Tagebuch (06.01.1839). Weder der unendliche Kosmos noch die Verwandten aus dem Tierreich noch das Genom mit seinen Sequenzen können uns wirklich je kränken. "Kränken können wir uns" – noch einmal Hebbel – "immer nur selbst". Dann nämlich, wenn es uns einfällt, daß ein Fadenwurm uns die Last unserer Freiheit abnehmen könnte.


 
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