© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/01 09. März 2001

 
Vollstrecker des anmaßenden Individualismus
Seit 25 Jahren ist die Neufassung des Paragraphen 218 Strafgesetzbuch in Kraft
Alexander Schmidt

In der Folge der großen Studentenrevolten und der Welle der feministischen Emanzipation in Deutschland beriet der Bundestag am 17. Mai 1973 in erster Lesung über eine Reform des Paragraphen 218 Strafgesetzbuch, damals Objekt heftigster offener Angriffe. Die bestehende Rechtslage war noch aus dem Reichsstrafgesetzbuch übernommen worden, nach dem Schwangerschaftsabbrüche seit 1871 generell unter Strafe standen.

Im Jahr darauf beschloß die sozial-liberale Koalition einen im Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf, nach dem Frauen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten über einen Abbruch entscheiden können. Die sogenannte Fristenregelung war geboren. Allerdings erließ das Bundesverfassungsgericht auf Antrag Baden-Württembergs am Tag der Verabschiedung des Gesetzes eine einstweilige Anordnung gegen das Inkrafttreten.

Im Februar 1975 wurde daraufhin die beschlossene Fristenregelung durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt, nachdem 193 Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion sowie fünf unionsregierte Länder eine Normenkontrollklage in Karlsruhe eingereicht hatten.

Trotz aller Verfassungsklagen und Widerstände aus Bayern verabschiedete der Bundestag den von der SPD/FDP-Koalition eingebrachten Gesetzentwurf mit vier Indikationen, wonach ein Abbruch unter anderem bei einer sozialen Notlage straffrei bleiben soll.

Der Paragraph 219 regelt seitdem die Beratungsregelung, an der sich auch die katholische Kirche nach heftigen Auseinandersetzungen beteiligt. Damals war es vor allem der Münchener Moraltheologe Johannes Gründel, der 1976 in einem Gutachten zu den Schlußfolgerungen kam, daß die katholische Kirche nur durch eine Beteiligung an der Beratung im gesetzlichen System einen größeren Kreis von Frauen erreichen und an der Gewissensbildung schwangerer Frauen teilnehmen könne.

Obwohl die Bischöfe zur internen Regelung der kirchlichen Beratung Richtlinien erließen, die unter dem Leitwort "Ja zum Leben" stehen sollten, war das Resultat ein anderes. In den Richtlinien der Caritas hieß es später: "Die Beratung soll der Frau Hilfe sein, eine eigene, freie und persönlich verantwortbare Entscheidung zu finden." Wie ein roter Faden habe sich das Primat der Gewissensentscheidung durch das Denken der kirchlichen Beratungswirklichkeit gezogen, sagte die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL), Johanna Gräfin von Westphalen, in dieser Woche bei einem Vortrag vor dem Arbeitskreis katholischer Priester in Emstek.

Die gefährlichste Zeit eines Kindes liegt vor der Geburt

Durch Rita Süssmuth fanden diese Ideen Eingang in die Gesetzesüberlegungen der folgenden Jahre. Süßmuths sogenannter "Dritter Weg" machte nach einer Pflichtberatung Leben und Tod eines Kindes allein vom "verantworteten Gewissensentscheid" der Schwangeren abhängig.

Erst durch die deutsche Wiedervereinigung wird eine neue Rechtssituation hergestellt. Das liberale Abtreibungsrechts des Westens prallt auf die noch weiter gefaßte Abtreibungspraxis der östlichen Bundesländer. Deshalb sieht der Einigungsvertrag vor, bis Ende des Jahres 1992 eine Regelung zu treffen, die den Schutz des vorgeburtlichen Lebens "besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands zur Zeit der Fall ist". Bis dahin galt in den neuen Bundesländern das Gesetz aus der Besatzungszeit von 1972 mit einer Fristenregelung von zwölf Wochen. Nach monatelangen Auseinandersetzungen beschließt das Parlament einen interfraktionellen Gruppenantrag – die Fraktionsdisziplin wurde für diese Entscheidung aufgehoben –, der im Kern eine Fristenregelung mit Beratungspflicht in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen vorsieht. In der Lesung vor dem Bundesrat lehnt nur der Freistaat Bayern das Gesetz ab. Dennoch tritt das Gesetz noch nicht in Kraft, das Bundesverfassungsgericht (BVG) greift am 8. August 1992 mit einer einstweiligen Anordnung in den Prozeß ein, der zweite Senat des BVG ist der Ansicht, die beschlossene Neufassung des Gesetzes sei in weiten Teilen verfassungswidrig. In einer vom BVG erlassenen vorübergehenden Neuordnung, wird festgelegt, daß trotz des grundsätzlichen Verbotes einer Abtreibung die Frau straffrei bleibe, wenn ein Arzt innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis das Kind im Mutterleid tötet. Dies setzt jedoch das Verlangen der Mutter und die zuvor stattgefundene Beratung voraus.

Drei Jahre später, am 29. Juni 1995, verabschiedet das Parlament ein neues Abtreibungsrecht, das im Kern eine Fristenregelung mit Beratungspflicht darstellt. Der von CDU/CSU, FDP und SPD gestützte Antrag beruht in wesentlichen Punkten auf der Vorgabe des BVG. Eine Gruppe Abgeordneter der CDU/CSU, darunter Hubert Hüppe und der heutige Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz, stellen einen Gegenantrag, der einen größeren Schutz des ungeborenen Lebens beinhaltet.

Dieser Antrag wird abgelehnt. Im Bundestag hat der Streit um Paragraph 218 vorerst ein Ende, in Bayern arbeitet der Landtag an weitergehenden Regelungen, die jedoch mehrheitlich aus Karlsruhe abgelehnt werden. Letztlich beinhaltet die Fristenregelung, eine Tötung nur deshalb straffrei zu belassen, weil eine Beratung vorausging. Das menschliche Leben wird mit dem Aushändigen der Beratungsbescheinigung antastbar und steht nicht mehr unter dem Schutz des Grundgesetzes.

Der Unrechtscharakter des bestehenden Systems wird inzwischen sogar von Fachleuten anerkannt, die der Lebensrechtsbewegung fernstehen. Gräfin von Westphalen zitierte Pof. Dr. Günter Kindermann, den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie. Der erklärte im vergangenen Jahr in München, daß es sich bei 97 Prozent aller Abtreibungen um "Töten auf Wunsch" handele und dies also "ohne ärztliche Indikation" geschehe. Er fragte weiter, "ob nicht in einer ferneren Zeit" Ärzte "nur als willige Vollstrecker eines als anmaßend empfundenen Individualismus betrachtet werden, wie man heute auf jene Ärzte blickt, die vor 60 Jahren Vollstrecker von Eugenik, Rassenhygiene und NS-Wahn im staatlichen Auftrag gewesen sind".

Erst der Fall des Oldenburger Babys im Herbst 1997 schien die Fragen der Abtreibungen, speziell der Spätabtreibungen, wieder aktuell werden zu lassen. Ein Kind wurde aufgrund medizinischer Indikation fast gegen Ende der Schwangerschaft abzutreiben versucht, allerdings erfolglos. Zehn Stunden blieb das Kind unversorgt liegen und wurde erst dann ärztlich versorgt. Die Vorfälle um Tim, das Oldenburger Baby, riefen bundesweiten Protest hervor.

Inzwischen feierte Tim seinen dritten Geburtstag, der eigentlich sein Todestag sein sollte. An der Gesetzgebung um Paragraph 218 hat sich jedoch seitdem nichts geändert. Nur die katholische Kirche hat nach langer Bedenkzeit erkannt, daß ein Verbleib in dem bestehenden System falsch ist, und berät seit Beginn diesen Jahres ohne die Vergabe der Abtreibungslizenzen.

Die gefährlichste Zeit im Leben eines Kindes ist immer noch die vor der Geburt. Das Argument, durch ein liberales Abtreibungsrecht mehr Kinder retten zu können, gilt nicht mehr. Trotz mangelnder Vergleichzahlen aus den Jahren vor 1976 sprechen Jahr für Jahr steigende Abtreibungszahlen eine andere Sprache. Ebenso muß unter empirischen Betrachtungen angenommen werden, daß 85 Prozent der Frauen, die Beratungsstellen aufsuchen, in ihrer Entscheidung festgelegt sind, das Kind hat somit in Beratungsfällen allenfalls eine Chance von 7,5 Prozent.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen