© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/01 02. März 2001

 
Die Natur außer Kontrolle
von Harald Kiefer

Seit Monaten beschäftigt das Thema "Rinderwahnsinn" die Medien. Seit die Krankheit auch in Deutschland auftauchte, wird Massentierhaltung und industrielle Lebensmittelerzeugung mehr und mehr in Frage gestellt. Es bilden sich Fronten zwischen Verbraucherinteressen und Gewinnerwartungen der Lebensmittelerzeuger. Jedoch geht die Diskussion mit vorgestanzten politischen Schuldzuweisungen in die falsche Richtung. Es gilt deshalb, einige Tatsachen festzuhalten.

- Eine Variante des Rinderwahnsinns, das Creutzfeldt-Jacob-Syndrom (CJS), tritt beim Menschen auf. CJS ist schon seit langem bekannt und kann auch erblich bedingt sein.

- In Großbritannien hat man bis Mitte der achtziger Jahre etwa 25 Fälle von CJS als normal verzeichnet. Danach und zusammen mit dem starken Anwachsen der Fälle von Rinderwahnsinn stieg die jährliche Todeszahl 1998 auf 89 Fälle und ist seither leicht am Abklingen.

- Die Übertragungsagenten für Rinderwahnsinn sind Prionen. Man hat die starke Zunahme von Rinderwahnsinn auf unzureichende Erhitzung von Rinder-Mastfutter zurückgeführt, das aus prionenbefallenen Schafskadavern gewonnen war. Prionen, auch langsame Viren genannt, sind relativ sicher nachzuweisen in menschlichem und tierischem Nervengewebe bei vielerlei Tierarten. Es gibt keine eindeutigen artspezifischen Barrieren für Prionen.

- Es ist selbst für Vegetarier schwierig, nicht in Kontakt mit Produkten des Rinderschlachtkörpers gewesen zu sein (zum Beispiel ist in Großbritannien eine junge Vegetarierin an CJS gestorben).

- Eine BSE-positiv getestete Kuh darf gewiß nicht verzehrt werden, aber auch eine negativ getestete Kuh kann schwer infiziert sein. Man darf beim heutigen Stand des Wissens nicht sagen, ein Prion ist nicht verhanden, bestenfalls hat man es nicht gefunden.

- Prionen sind extrem resistent gegenüber den meisten natürlichen Abbauvorgängen wie Hitze, UV-Licht, Salzlösungen, Formalin und alkalischen Lösungen. Normale mikrobiologische Filter halten Prionen nicht zurück.

- Nach einer 95-Prozent-Wahrscheinlichkeitssimulation in Großbritannien kommt man zu einem Ergebnis zwischen 63 und 136.000 befallenen Personen. Es bleiben allerdings fünf Prozent Rest-Wahrscheinlichkeit undefiniert. Der Phantasie sind im jetzigen Wissensstadium keine Grenzen gesetzt.

- Es scheint eine erbliche Veranlagung mancher Menschen für CJS zu existieren, denn alle bekannten Fälle traten nur bei 37 Prozent der Menschen mit einem besonderen Genom auf. Es besteht jedoch die Möglichkeit, daß die restlichen 63 Prozent längere Ansteckungszeiten benötigen oder zwar übertragen können, jedoch immun sind.

- Bei Böhringer-Ingelheim vermutet man, daß möglicherweise die Prionen nicht die Erreger von BSE sind, sondern nur nachweisbare Eiweißstoffe, die häufig dann vorhanden sind, nachdem ein Organismus von BSE befallen wurde.

- Die zur Zeit schlimmstmögliche Vermutung, daß bei Schafen sogar das Fleisch von Prionen befallen sein könnte, wird nicht von allen geteilt. Schafe können infiziert sein durch infiziertes Rindermehl, aber es ist nicht sicher, daß sich die Epidemie bei Schafen weiterentwickelt. Schweine und Geflügel können als Prionen-Überträger nicht ausgeschlossen werden.

Wie übertragen sich Prionen? Durch Futter? In der Herde durch Kontakt? Von Kuh zu Kalb im Mutterleib? Beim Weidegang durch fäkalienverschmutzte Nahrung? Können prionenkontaminierte Blutspender CJS übertragen? Wie vermehren sich Prionen? Wie kann man CJS-befallene Menschen oder Tiere behandeln oder heilen?

Wahrscheinlichkeits-Aussagen über mögliche Ansteckungen werden durch Nicht-Wissen über Ansteckungszeiten im Wert herabgemindert.

Kybernetische Systeme sind komplexe Regelkreise in der Natur, also ganzheitliche Systeme mit vielen Störgrößen und vielen Stellgrößen, die auch alle noch unterschiedlich flink oder träge reagieren.

Kybernetische Systeme neigen dazu, Gleichgewichtszustände selbsttätig aufrecht zu erhalten, etwa Körpertemperatur, Blutdruck, Bevölkerungsdichte, Artenverteilung, Kohlendioxid-Gehalt der Luft.

Es sind auch kybernetische Systeme bekannt, die sich selbst sehr stark schädigen können, indem durch äußere Anregung entstandene Schwingungen des Systems sich gegenseitig aufschaukeln, bevor eine natürliche, kybernetische Dämpfung stattfindet. Beim Vermehrungszyklus von Lemmingen und Wanderheuschrecken hat man ähnliches beobachtet. Das sporadische Auftreten der Beulenpest im Mittelalter ist das bekannteste und schrecklichste Beispiel.

Das allgemein als zwingend notwendig erachtete Wirtschaftswachstum, zusammen mit dem rasanten Fortschritt des Komplexes Biotech, hat es unausbleiblich werden lassen, daß in der belebten Natur eine der zahllosen Stellgrößen derart verändert wird, daß aus selbsttätig ablaufenden kybernetischen Systemen technische Regelkreise werden. Derartige Stellgrößen sind etwa der Ozon- oder Kohlendioxid-Gehalt der Luft oder der Hormon- und Antibiotika-Pegel in industriell erzeugter Handelsware wie Eiern oder Fischen, Obst oder Gemüse, Fleisch oder Milch. Denn die industrielle Lebensmittelerzeugung bringt allerlei synthetische Substanzen in den Kreislauf der Natur ein, deren Langzeiteffekte auf organisches Leben ungeklärt sind.

Aus wirtschaftlichen Gründen versucht "Komplex Biotech" mit allen denkbaren und möglichen legalen Mitteln in kürzester Zeit Unmögliches nachzuweisen, nämlich daß keine Langzeitwirkungen zu befürchten sind. Es drängt sich die Frage auf, für welche Zeitspannen denn eigentlich Unbedenklichkeitsnachweise zu erbringen sind.

Ein Börsenbrief schreibt am 11. Januar 2001 in der Rubrik Chemie/Pharma über die Aktien der Firma Bayer aus Leverkusen: "Bayer gibt erneut ein Ergebnis bekannt: In weniger als 18 Monaten gelang es, einen Medikamenten-Kandidaten – mit Blockbuster-Potential (!) – durch die Prä-Klinik zu schicken." So wirbt der "Komplex Biotech" in der sozialen Marktwirtschaft im harten Wettbewerb um das Vertrauen der Kapitalgeber.

Bei einer katastrophalen Karnickel-Vermehrung in Australien in den fünfziger Jahren setzte man bewußt den Viruserreger der Myxomatose als "natürliches" Dämpfungsglied ein, machte somit aus einem natürlichen, kybernetischen System einen von außen beeinflußten Regelkreis. In Frankreich hat man auf diese Weise 1952 die Wildkaninchen versehentlich ausgerottet.

Ein anderes, zur Zeit noch wenig beachtetes Beispiel, ist die Tollwut. Es handelt sich wiederum um die Umwandlung eines kybernetischen Systems in eine Regelstrecke: Heute hat man mit Erfolg in Mittel- und Westeuropa die Tollwut im Griff. Füchse sind die Hauptüberträger der Tollwut auf landwirtschaftliche Nutztiere. Bei den meisten Warmblütern, also auch beim Menschen, verläuft die Krankheit unbehandelt fast immer tödlich. Der Druck der Landwirte auf die Jagdbehörden war stark. Jene versuchten deshalb, die Füchse mit allen verfügbaren Mitteln auszurotten, nicht zuletzt durch Vergasung in den Bauen. Das gelang aber keineswegs, der schlaue Reineke machte seinem Namen alle Ehre. So wurde denn vor etwa fünfzehn Jahren eine Schluckimpfung für wilde Füchse entwickelt. Mit präparierten Hühnerköpfen wurden großflächig vom Hubschrauber aus ganze Fuchspopulationen behandelt; wie es heute aussieht, mit Erfolg.

Wenn nun aber der Tollwutvirus mutiert, resistent wird? Müssen wir dann alle Haushunde und Katzen als Zwischenglied ausschalten? Danach alle potentiell übertragungsfähigen Wildtiere eliminieren, also Füchse und Marder, und sogar die putzigen Eichhörnchen?

Zur Zeit bastelt man an den Genen von Nutzpflanzen und Nutztieren, um natürliche vorhandene Dämpfungsglieder zu verändern, oder um Stör- und Stellgrößen auszuschalten oder zu beeinflussen. Ziel ist dabei immer, wirtschaftliche Vorteile gegenüber Konkurrenten in der sozialen Markwirtschaft zu gewinnen.

Die Natur war vor Zeiten im kybernetischen Gleichgewicht. Wenn sie heute zum Biotech-Regelwerk umgestaltet worden ist, dann sollte man annehmen, daß der Mensch auch die mathematischen Zusammenhänge –Differentialgleichungen im allgemeinen – der Regelkreise versteht. Von diesem Verständnis ist "Komplex Biotech" jedoch weit entfernt. Und genau das wird zur Zeit mit Erfolg wenn nicht verschleiert, dann mißachtet.

Wir wiederholen es: Es wurden aus kybernetischen Gleichgewichtszuständen technische Regelsysteme geformt. So muß der moralische und ethische Mensch eingreifen, muß regeln. Dabei besteht beim Regeln immer die Gefahr der Übersteuerung, also der Selbstzerstörung des Systems. Aus Routineproblemen von Meß- und Regeltechnikern sind nun Katastrophenszenarien geworden, weil mathematische Zusammenhänge der Regelstrecke nicht hinreichend bekannt sind.

Wer unter diesem Blickwinkel nochmals die Kausalzusammenhänge zwischen BSE, CJS und Prionen betrachtet, der wird verblüfft feststellen, daß Komplex Biotech nicht nur die Regelkreise der Prionen nicht versteht, nein Stell- Stör- und Dämpfungsglieder sind überhaupt nicht bekannt. Man kann deshalb überhaupt nicht regeln, selbst mit besten Absichten. Nicht technisch, nicht biologisch und juristisch schon gar nicht. Newtons Gesetz der Schwerkraft kann man auch nicht per Bundesgesetz oder per Ministerialerlaß außer Kraft setzen.

 

Harald Kiefer ist Diplomingenieur und war bis Ende vorigen Jahres selbständiger Landwirt in Lothringen.


 
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