© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/01 23. Februar 2001

 
Die linke Lebenslüge
von Fritz Schenk

Es ist in den vergangenen Wochen immer wieder gefragt worden, was wohl geschehen wäre, wenn ein führendes Mitglied der Union (oder gar ein Mitglied einer von der Union geführten Regierung) hätte bekennen müssen, daß es als Student oder politischer Anfänger auf der rechtsradikalen Seite gestanden habe und in Straßenkämpfe mit der Polizei verwickelt gewesen sei, teilweise "untergetaucht" gelebt habe und in zwielichtigen Gruppengemeinschaften (die in fließenden Übergängen zum Terrorismus standen), gewesen sei. Kurz gefaßt also der "rechts"-gerichtete Vergleich zur gegenwärtigen Debette über die ultralinke politische Vergangenheit der grünen Repräsentanten um Fischer, Cohn-Bendit, Trittin und Genossen. Zweifel sind ausgeschlossen: Schon diese Frage zu stellen, auch nur in Andeutungen linken und rechten Radikalismus oder gar Extremismus in einem Atemzuge zu nennen, wird im heutigen Deutschland für politisch unzulässig gehalten. In Richtung "rechts" werden weder nachträgliche Erklärungen oder Entschuldigungen entgegengenommen, noch gibt es auch nur die Spur von Absolution.

Links ist hingegen korrekt, nach links darf man sich entwickeln, zu weit links gestanden zu haben, im linken Überschwang radikal bis extremistisch gewesen zu sein, ist nicht nur verzeihlich, es wird heute auf neudeutsche Weise geadelt. Vollblut-Atheisten zitieren urplötzlich die Bibel, sprechen von der Wandlung vom Saulus zum Paulus, wenn es um die Ihren geht und darum, daß sie ja einen moralischen Auftrag erfüllt hätten. Und damit beginnt der eigentliche Skandal und die für Gegenwart wie Zukunft gefährliche Geschichtsklitterung und Mißdeutung: daß nämlich diese Achtundsechziger-Bewegung der alten Bundesrepublik erst ihr wirklich liberales und demokratisches Grundmuster gegeben habe.

Vom eigentlichen Skandal in diesem Zusammenhang zu sprechen ist auch deshalb nötig, weil ja die Grunderkenntnisse über die Vergangenheit der angesprochenen Personen zur Genüge bekannt waren und sind. Woher die grüne Kerntruppe gekommen war, ist weder von ihren Anführern selber noch von jenen verschleiert worden, die sie beobachtet und ihren Werdegang verfolgt hatten, die von ihnen bedroht, belästigt oder gar körperlich beschädigt worden sind und die in ihnen eine Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung sehen.

Der damalige hessische Ministerpräsident Holger Bömer, ein Sozialdemokrat alter Schule, hatte ja recht mit seinem Ausspruch, daß diese "Bewegung" durchaus mit der frühen NS-"Bewegung" zu vergleichen und daher eigentlich "mit Dachlatten zu bekämpfen" sei. Und genau er beging dann den Sündenfall aus reiner Parteiräson und machte Joseph Fischer zum ersten grünen Minister in Deutschland – der zu seiner Vereidigung auch noch provokativ in Turnschuhen und Jeans im Hessischen Landtag auftrat. Dies war die Generalabsolution! Wer danach noch daran zweifeln konnte, daß die SPD vor allen anderen mit den Grünen koalieren würde, hat den grundsätzlichen sozialistischen Generalnenner zwischen diesen beiden Parteien – und vor allem den ihrer Mitglieder im Bündnis mit den DGB-Gewerkschaften – nicht erkannt.

Für das bürgerliche (nicht sozialistische) Lager bedeutet es deshalb eine Provokation, wenn die Entwicklung seit Anfang der siebziger Jahre, das heißt seit Beginn der ersten Regierung Brandt/Scheel, jetzt als die (neu)-westdeutsche Demokratisierungsphase umgeschrieben werden soll. Die junge Bundesrepublik ist seit ihrer Gründung und bis in die sechziger Jahre hinein so liberal gewesen, wie das seitdem nie mehr der Fall gewesen ist. Verglichen mit dem heutigen Wust an Gesetzen, Regelungen, nationalen, internationalen und föderalen Vorschriften und Verordnungen war sie fast eine freiheitliche Oase. Eben deshalb wurde sie ja zu einem solchen Magneten für unsere ostdeutschen Landsleute und die Bürger hinter dem Eisernen Vorhang, daß sich der "reale" Sozialismus nur durch Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und schärfste Repressionen gegen sie zur Wehr setzen konnte.

Und in diese Zeit fällt der noch frühere – und für die politische Beurteilung und Entwicklung folgenreichere – Sündenfall: Genau diese menschenverachtende Gewaltpolitik der kommunistischen Machthaber festigte nämlich nicht die allgemeine demokratische Allianz, wie sie seit Ausbruch des Kalten Krieges unter den staatstragenden westdeutschen Parteien bestanden hatte, sondern spaltete sie in "Kalte Krieger" und "Friedensfreunde". Das wurde zuerst in Berlin deutlich. Die brutale Abriegelungspolitik Ulbrichts wurde von jenen Intellektuellen und ihrem studentischen Anhang mit der Frage entschuldigt, was er denn gegen die Massenflucht seiner Untertanen sonst hätte unternehmen sollen? Und wer dagegen antwortete, daß er vielleicht seine Unterdrückungspolitik aufgeben müßte, hatte sofort den Stempel des "Kalten Kriegers" am Revers, denn "der Sozialismus" könne doch nicht zur Disposition gestellt werdenl

Dieser Denkart lag die Politik des "Wandels durch Annäherung" zu Grunde, die seit dem Mauerbau von Berlin aus durch Brandt und Bahr verfolgt wurde. Sie fand ihren agitatorischen Slogan in dem Ausspruch des SPD-Blech-Trommlers Grass, daß allein Auschwitz die Wiedervereinigung Deutschlands für alle Zeiten verbiete, was ja nichts anderes als die Ungeheuerlichkeit heißen konnte, daß ausschließlich die Mitteldeutschen für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu büßen hätten. Daß dies den Beifall der Mehrheit der in Wohlstand, Freiheit und unter Nato-Sicherheit lebenden Westdeutschen fand, daß es dem "Ruhm" und dem Einkommen dieses verbissenen Verächters der westdeutschen Verfassungswirklichkeit sogar noch kräftigen Aufschwung gab, hat eigentlich schon damals den Vormarsch der Political Correctness erkennen lassen.

Diese Politik war vor allem ein Bruch mit der sozialdemokratischen Tradition seit dem Ausgang der Weimarer Republik, insbesondere mit der ihres ersten Nachkriegsvorsitzenden Kurt Schumacher. Schumacher hatte keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Nazis und Kommunisten gemacht, habe die Kommunisten auch immer "rotlackierte Nazis" genannt (manche zitieren diesen Ausspruch heute bewußt verfälscht mit "rotlackierte Faschisten"). Er kannte den Gleichklang der Kommunisten und Nationalsozialisten beim Untergang der Weimarer Demokratie. Mit ihm wären Kooperationen mit einem Sowjetvasallen wie Ulbricht undenkbar gewesen. Die Neuorientierung der SPD auf mögliche Kooperationen mit der SED veränderte daher auch die Mitgliederstruktur dieser Partei (mehr als 50.000 Austritte!) und bedeutete insgesamt einen deutlichen Ruck nach links. Es war das Ende einer gemeinsamen Deutschlandpolitik zwischen SPD und Union, wie sie bis in die Zeiten der Großen Koalition Ende der sechziger Jahre als einer der politischen Pfeiler freier deutscher Nachkriegspolitik gehalten hatte.

Es wäre reizvoll, die Kette der Irrtümer sozialdemokratischer Politik während der Ära Kohl nachzuzeichnen. Wichtig für die Beurteilung ihres heutigen Kurses ist aber hauptsächlich, daß die SPD ohne die Umdeutung der Geschichte eine Partei ohne historisches Fundament wäre. Daher rettet sie sich in die Version, erst die Ost- und Deutschlandpolitik von Brandt, Bahr und Scheel hatten den friedlichen Wandel von 1989/90 möglich gemacht. Und genau da liegt auch die Klammer der SPD zu den Grünen. Beide haben aus ihrem sozialistischen Grundanliegen heraus den "Ausgleich" mit dem Kommunismus, den "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", gesucht. Den Zusammenbruch des realen Sozialismus haben sie als eigene Niederlage empfunden, weil er ihnen ihre Ersatzreligion zu nehmen drohte. Nichts fällt ihnen schwerer als etwa zugeben zu müssen, daß die von ihnen in ihren Sturm- und Drangjahren bekämpfte bürgerlich-"kapitalistische" Gesellschaft wohl doch die lebens- und erhaltenswertere ist als ihre sozialistisch-ökologische (Wunsch)-Traumwelt.

Aber weil ihr Aufruhr, ihre Gewalt, ihr Widerstand gegen den "repressiven Polizeistaat", die Wirtschafts- und Finanzmonopole und wie die Begründungen alle hießen und heute wieder heißen, doch sowohl dem Frieden wie der sozialen Wohlfahrt, vor allem aber der Gerechtigkeit und Überwindung der Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, dem Schutz der Ökologie vor dem "Raubbau der Kapitalisten", kurzum einer allgemein glücklichen, gesunden, friedlichen, sicheren und gerechten Welt gegolten habe, sind all ihre Missetaten entschuldigt, denn sie entsprangen ja nicht "rechtem" Extremismus. Wer die gesprochenen (und mehr noch die gedruckten) Debatten der letzten Wochen verfolgt hat, möchte vor der brutalen Demagogie resignieren, mit der die Political Correctness linke Gewalt nicht nur nachträglich rechtfertigt, sondem jenen, die sie als unzulässige Gewalt schlechthin verurteilen, das "rechte" konservative Etikett umhängt und sie damit zum eigentlichen Gefahrenherd unserer Demokratie abstempelt. Die Demokratie ist daher heute nicht weniger bedroht als in der Hoch-Zeit der achtundsechziger Gewalttäter.

 

Fritz Schenk war von 1971 bis 1988 Co-Moderator, zuletzt Redaktionsleiter des ZDF-Magazins. Danach war er bis zu seiner Pensionierung 1993 Chef vom Dienst der Chefredaktion des ZDF. Seither ist er als freier Publizist tätig.


 
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