© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/01 23. Februar 2001

 
Eine starke Gemeinschaft
Kino: Erich Kästners "Emil und die Detektive" von Franziska Buch
Silke Lührmann

In Mecklenburg-Vorpommern ist die Welt einigermaßen in Ordnung. Emil (Tobias Retzlaff) und Knut Tischbein (Kai Wiesinger) haben zwar kein Geld, und die Mutter ist ihnen bis nach Montreal weggelaufen, aber sie lieben sich sehr. Das drückt der Vater durch fantastische selbstgebaute Lenkdrachen und "Emil-Tischbein-Spezial-Geburtstagsburger" mit Pommes in Erdnußbutter aus – und Emil, indem er die Hälfte des Taschengeldes vom Schulausflug wieder mitbringt und zwei Stunden vor der ausgemachten Zeit vom Spielen nach Hause kommt, damit sein Vater nicht alleine zu Abend essen muß. Der versprochene Kinobesuch wird mit großem Captain-Spider-Ehrenwort auf nächste Woche verschoben, wenn Paps sein Arbeitslosengeld bekommt. Als eine westdeutsche Teppichfirma im Nachbarort eine Fabrik aufmacht, ermutigt Emils Lieblingslehrer seinen Vater nicht nur, sich als Staubsaugervertreter zu bewerben, sondern vermittelt dem Jungen auch noch einen Ferienaufenthalt bei seiner Schwester, der Pastorin Hummel, und ihrem Sohn Gustav im vornehmen Berliner Stadtteil Zehlendorf. Und sogar der Briefträger wünscht den Tischbeins viel Glück.

"Berlin ist die coolste Stadt der Welt", verheißt Emils bester Freund Hassouna voller Neid. "Da kannste alles kaufen!" Die Kehrseite lernt Emil schon im Zug nach Berlin von dem Schurken Max Grundeis (Jürgen Vogel): "Ohne Geld bekommst du gar nichts in Berlin!" Ein bißchen unrecht haben beide. Es ist nicht Geld, sondern die Kreditkarte, dieses paradigmatische Baudrillardsche Simulacrum – das Zeichen des Geldes, das selber nur einen zeichenhaften Tausch- statt eines echten Gebrauchswertes hat –, die den Kindern im Hotel Adlon eine Schale Champagner für ihren Hund und in einem Nobel-Restaurant Schnitzel und Currywurst erkauft.

Angeführt von der rotzfrechen Pony Hütchen (Anja Sommavilla), bilden die Detektive eine multikulturelle unterirdische Idylle, in der Entscheidungen per Akklamation gefällt und Konfliktpotentiale dem gemeinsamen Ziel untergeordnet werden, Emils Geld wiederzubeschaffen und dabei "Cooles" zu erleben.

Die intakteste Familie in diesem Film ist die des Rumänen Gypsi, der so viele Geschwister hat, daß "sowieso keiner merkt, ob ich da bin oder nicht". Die Zwillinge Fee und Elfe, die "die besten Graffitis der Stadt sprühen", leben auf der Straße und in den Katakomben, dem Treffpunkt der Bande; Dienstags Eltern vernachlässigen ihn nur materiell nicht; Pony Hütchens Mutter trinkt, und Krumbiegel fühlt sich am wohlsten in der dyslektischen Welt seiner Comic-Helden.

Während die zerstreute rothaarige Pastorin (Maria Schrader) eine von ihrem Sohn und Gypsi geschriebene Predigt über Kinderrechte hält – "Ungerecht ist, wenn die Eltern sich scheiden lassen, ohne überhaupt zu fragen, ob Du auch geschieden werden möchtest" –, machen die Kinder auf der Straße vor, wie aus vielen schwachen Einzelnen eine starke Gemeinschaft wird, die dem schmierigen Max Grundeis mehr als gewachsen ist.

Wer diese Szenen aus Erich Kästners Jugendbuch "Emil und die Detektive" nur vage erinnert, leidet nicht unbedingt an Gedächtnisschwund. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Franziska Buch beschloß, "unbefangen mit dem Stoff umzugehen": "Ich hatte das Bedürfnis, einem veränderten Geschlechterverhältnis Rechnung zu tragen und eine Figur zu schaffen, die für die Mädchen von heute eine Identifikationsfigur und ein Rollenvorbild zugleich ist." Auch anderen Bedürfnissen trägt sie Rechnung: "In der heutigen Zeit verfallen Familien, das traditionelle Familienbild‚ Vater, Mutter, Kinder‘ existiert kaum noch. Kinder haben aber das berechtigte Bedürfnis, einen Vater und eine Mutter zu haben – ein Bedürfnis, das sich oft mit den Glücksansprüchen der Eltern reibt." Neben einem "präzisen Eindruck von der Gesellschaft, in der er lebte, und den sozialen Verhältnissen" hat Erich Kästner für sie in "Emil und die Detektive" "eine Art romantische Utopie" geschaffen. "Die Kinder können, wenn sie als Gruppe zusammenhalten, viel bewegen, sogar eine ’feindliche‘ erwachsene Welt besiegen. Dies entspricht natürlich nicht der Realität, ist aber ein Aspekt, den die Kinder lieben, denn er stärkt das Selbstbewußtsein".

Auf der Strecke geblieben ist dabei das alte, altmodische Berlin, das Erich Kästner wie kein zweiter durch Kinderaugen heraufzubeschwören verstand. Franziska Buchs Milieu ist die neue, beschleunigte Metropole, und so fand auch die Pressevorführung nicht in einem der Traditionskinos entlang dem Ku’damm statt, sondern im gläsernen Sony Center am Potsdamer Platz. Von finanziellen Erwägungen abgesehen – die Produktionskosten einer "authentischen" Verfilmung wären um einiges höher gewesen, die Schwierigkeit, Originalschauplätze zu finden, ohne Dreharbeiten im Studio wohl kaum zu überwinden – ist nicht recht einsehbar, warum der pädagogisch korrekte Mehrwert auf Kosten des Lebensgefühls gehen muß, dessen atmosphärische Vermittlung für heutige Leser den Charme Kästners ausmacht. Nur die Namen muten seltsam anachronistisch an. Kein Computergenie heißt Gustav Hummel, und Jungen namens Emil Tischbein können nicht rappen oder skaten, noch werden sie in den ZDF-Abendnachrichten interviewt.

Vielleicht ist es in der Tat dringlicher, Kindern die Welt darzustellen, in der sie leben müssen, als ihnen eine längst vergangene erfahrbar zu machen. Die Begeisterung der Anwesenden hielt sich allerdings in Grenzen. "Na ja", meinte ein mit Skateboard bewaffnetes Mädchen achselzuckend auf die wißbegierige Frage eines Journalisten, ob ihr der Film gefallen habe, "war schon ganz okay".


 
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